Beten gegen Zynismus | nikolaushueck blog

Beten gegen Zynismus

Predigt zu Exodus 32,7-14

Eintrag vom

Der Herr sprach zu Mose: Geh, steig hinab; denn dein Volk, das du aus Ägyptenland geführt hast, hat schändlich gehandelt. Sie sind schnell von dem Wege gewichen, den ich ihnen geboten habe. Sie haben sich ein gegossenes Kalb gemacht und haben’s angebetet und ihm geopfert und gesagt: Das ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägyptenland geführt hat.
Und der Herr sprach zu Mose: Ich sehe, dass es ein halsstarriges Volk ist. Und nun lass mich, dass mein Zorn über sie entbrenne und sie vertilge; dafür will ich dich zum großen Volk machen.
Mose aber flehte vor dem Herrn, seinem Gott, und sprach: 
Ach Herr, warum will dein Zorn entbrennen über dein Volk, das du mit großer Kraft und starker Hand aus Ägyptenland geführt hast? Warum sollen die Ägypter sagen: Er hat sie zu ihrem Unglück herausgeführt, dass er sie umbrächte im Gebirge und vertilgte sie von dem Erdboden? Kehre dich ab von deinem grimmigen Zorn und lass dich des Unheils gereuen, das du über dein Volk bringen willst. Gedenke an deine Knechte Abraham, Isaak und Israel, denen du bei dir selbst geschworen und verheißen hast: Ich will eure Nachkommen mehren wie die Sterne am Himmel, und dies ganze Land, das ich verheißen habe, will ich euren Nachkommen geben, und sie sollen es besitzen für ewig. Da gereute den Herrn das Unheil, das er seinem Volk zugedacht hatte.

Ein Gebet wie ein Ringkampf:
„Lass mich, dass mein Zorn über das Volk entbrenne“, sagt Gott.
Aber Mose lässt ihn nicht.
Er betet, fleht, wirft alles in die Waagschale, was er aufbieten kann:
Ach, Herr, „Kehre dich ab von deinem grimmigen Zorn und lass dich des Unheils gereuen, das du über dein Volk bringen willst.“

Gottes Zorn und Moses Gebet:
Gott und Mensch ringen miteinander.
Und am Schluss gewinnt, man glaubt es kaum, der Mensch und sein Gebet:
Den Herrn „gereute das Unheil, das er seinem Volk zugedacht hatte“.

Eine äußerst kühne Geschichte darüber, dass das Gebet nicht umsonst ist.
Dass wir beten dürfen, dass wir beten sollen.
Und dass es in Gott beides gibt: den Zorn, aber auch das Erbarmen.

Ich glaube, in diesem Text steckt ganz viel Lebenserfahrung.
Erfahrung mit dem Unglauben, dem Kleinglauben der Menschen.
Erfahrungen mit dem Zorn Gottes.
Erfahrung aber auch, dass Gott Erbarmen kennt.
Dass er sich bewegen lässt, wenn Menschen zu ihm beten.

Das alles steckt in diesem Text, der an einer so wichtigen Stelle der Bibel steht.
Denn es ist genau die Stelle, an der Mose auf dem Berg Sinai die Zehn Gebote erhält.
So – nach diesen Geboten – sollt ihr Leben, wenn ihr mein Volk seid, sagt Gott:
Nach diesen Geboten wird Euer Leben gelingen.

Und das Volk Israel?
Ihnen dauert es zu lange, dass Mose auf dem Berg verweilt.
Und sie stören sich daran, dass dieser Gott so unsichtbar bleibt.

Die Versuchung ist groß, diesen unsichtbaren Gott zu ersetzen,
sich einen Gott zu machen, den man sehen kann,
den man anfassen kann, vor dem man die Knie beugen, den man anbeten kann.

Und so machen sie sich das Goldene Kalb.
Das Bild eines starken, jungen Stieres,
das ihnen die Gewissheit verschaffen soll:

Diesen Gott gibt es wirklich, dieser Gott wird uns retten.
Er wird uns aus der lebensfeindlichen Wüste führen,
in ein fruchtbares Land, wo wir auf eigenen Beinen,
von unserer eigenen Hände Arbeit leben können.

Kein so unverständlicher Wunsch, nicht immerzu nur abhängig zu sein von der Gnade Gottes,
und endlich für sich selbst sorgen zu können.

Aber ein Wunsch, der Gott die Zornesröte ins Gesicht treibt.

Denn das ist genau das Gegenteil von dem, was Gott mit den Zehn Geboten wollte:
Zuallererst wollte er das Vertrauen in ihn,
den Gott, der das Volk Israel aus Ägypten herausgeführt hatte.
Das Goldene Kalb aber ist die größte Misstrauensbekundung,
die Israel diesem Gott aussprechen konnte.

Deshalb der Zorn Gottes.
Und deshalb das Ringen zwischen Gott und Mose, von dem der Predigttext erzählt.
So wütend Mose selbst auf seine Israeliten sein mag,
so wenig kann er sie sich selbst und dem Zorn Gottes überlassen.

Mose betet.
Er legt in dieses Gebet viel Herzblut.
Er erinnert den zornigen Gott an dessen eigene Barmherzigkeit.
An die Befreiung der Israeliten aus Ägypten.
Soll das alles umsonst gewesen sein?
Sollen die Ägypter am Schluss doch triumphieren können?

Erinnere Dich, Herr, was Du dem Abraham verheißen hast!
Zahllose Nachkommen hast Du ihm versprochen – und das Land.
Dieses Versprechen willst Du brechen? Fragt Mose.

Und dieses Gebet wirkt. In einem ganz buchstäblichen und atemberaubenden Sinn: Gott ändert seine Meinung.
Da gereute den Herrn das Unheil, das er seinem Volk zugedacht hatte.

Soweit die Geschichte.
Ich habe sie so ausführlich erzählt,
weil ich sie für wichtig,
für eine unendliche Ermutigung halte.
Denn: Übersetze ich diesen wunderbaren uralten Text ins Heute,
so erhalte ich ein einzigartiges großes Plädoyer für das Gebet.

Trau Dich, bete! Bitte Gott um das, was dir wirklich wichtig ist!
Du magst noch so schlechte Erfahrungen gemacht haben.
Du magst noch so sehr meinen, dass Gott weit weg ist,
Du magst noch so enttäuscht sein von Gott –
lass ihn nicht aus, weiche ihm nicht aus den Ohren.
Du darfst Gott immer wieder mit Deinem Gebet kommen,
er wird es Dir nicht übel nehmen, im Gegenteil:
Er wird Dir zuhören und das wird Dir guttun.

Das ist das erste, was ich aus diesem Text lese:
Wir sollen, wir dürfen, wir können beten
und uns mit allem, was uns wichtig ist, an Gott wenden.

Aber dann muss ich auch gleich meine Zweifel anmelden:
Bei Mose hat das Gebet seine Wirkung gehabt.
Wir wissen aber, und wir haben die manchmal unendlich bittere Erfahrung gemacht,
dass Gott eben nicht alle Gebete erhört.
Manchmal geht es anders aus, als wir es uns wünschen.

Wie viele Hände haben sich an Krankenbetten gefaltet,
wie viele Gebete um Heilung und Gesundheit wurden gesprochen –
und die Ärzte konnten doch nichts mehr tun.

Wie viele Paare haben um Gottes Segen für ein gemeinsames Leben gebeten –
und sich trotzdem nach einiger Zeit getrennt.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gott die Gebete nicht gehört hat,
ich kann mir nicht vorstellen, dass er von den Gebeten unbeeindruckt war,
dass sie ihn kalt gelassen haben.
Und doch ist es nicht so ausgegangen, wie sich die Betenden es gewünscht haben.

Ich glaube, wer betet, wer Gott mit seinem ganzen Herzen um etwas bittet,
der muss immer auch das Gebet sprechen können, dass Jesus selbst gebetet hat.
Damals im Garten Gethsemane:
„Vater, ich bitte dich, doch nicht wie ich will, sondern wie du willst“.

Gott, nicht so wie ich will, sondern wie du willst.
Das ist das Grundvertrauen.

Und dann – auf dieser Grundlage – darf ich Gott alles sagen.
Darf ich ihn alles bitten.
Darf ich ihm auch meinen Zorn entgegenschleudern über das,
was in dieser Welt passiert.
Mit mir und mit so vielen Menschen.

Aber ohne diese Haltung, dass „nicht mein, sondern dein Wille geschehe“,
ohne diese Haltung wird das Gebet leicht zu einem Tauschhandel, nach dem Motto:
Ich gebe dir meine Zeit und mein Gebet – und du, Gott, tust dafür, was ich von dir erbitte.

Ohne diese Haltung bete ich nicht Gott,
sondern ich bete das Goldene Kalb an,
einen Gott, den ich mir nach meinen Wünschen forme,
der tut, was ich von ihm verlange.

Anders gesagt:
Mein Gebet hilft mir, sozusagen die Rollen zu klären:
Gott ist ganz Gott.
Und ich bin ganz Mensch.

Im Gebet darf ich sein, wie ich bin, muss mich vor Gott nicht verstellen.
Ich darf ihm alles sagen, muss nicht abwägen, ob ich richtig oder falsch bete,
darf von meiner Not und von meiner Freude erzählen.

Und gerade darin lasse ich Gott ganz Gott sein.
Gebe ihm die Verantwortung dafür, was er aus meinem Gebet macht.
Lasse ihm seinen Willen, wie im Himmel, so auf Erden.

Gott seinen Willen zu lassen und nicht an ihm zu verzweifeln –
das ist oft gewiss nicht einfach und manchmal sogar sehr schmerzvoll.
Aber das Gebet kann helfen, diese Haltung einzuüben.

Und es kann mich mit anderen Menschen verbinden.
Gerade in der Fürbitte, wie Mose sie für Israel betet:
Wie oft habe ich den letzten Wochen von Menschen in der Ukraine, die wir im letzten Herbst besucht haben, gehört: Betet für uns.
Ja, das kann ich tun. Beten. Sonst vermutlich nicht viel.
Aber beten kann ich.
Für die Menschen in der Ukraine.
Für die Menschen Syrien, die die Medien fast schon wieder vergessen haben.
Für die entführten christlichen Schülerinnen in Nigeria.
Natürlich ersetzt das Gebet nicht, dass wir etwas tun, wo immer wir können.
Aber Beten ist eben auch schon etwas.

Und Beten hält mich davon ab, dass ich zynisch werde.
Dass ich mich abfinde mit der Welt, wie sie eben nun mal ist.

Zynismus gibt es schon zuviel auf dieser Welt:
Ministerpräsident Erdogan zum Beispiel, der nach dem größten Grubenunglück in der Geschichte der Türkei meinte: So sei das eben nun mal, Bergwerke seien gefährlich – und mit Opfern müsse man immer rechnen. Das ist Zynismus pur.

Aber nicht nur die anderen sind zynisch. Auch wir selbst sind es viel zu oft.
Zum Beispiel wenn wir immer noch ertragen, dass an den Grenzen Europas die Menschen ertrinken, die bei uns Zuflucht und eine bessere Zukunft suchen.
Wenn wir uns mit den Ertrunkenen im Mittelmeer abfinden,
als sei das der Lauf der Welt, den wir nun mal nicht aufhalten können,
dann sind wir zynisch.

Nein, wir können etwas tun.
Für die Menschen, die nach Europa fliehen vor Verhältnissen, die wir uns nicht einmal in unseren dunkelsten Albträumen vorstellen können.

Und wir können unsere Haltung ändern.
Deshalb haben wir selbst die Fürbitte bitter nötig.
Nicht nur die Menschen, für die wir beten – auch wir haben sie nötig.
Das Beten befreit uns aus unserem oft nur allzu großen Zynismus.

Wenn wir wirklich meinen, für was wir bitten,
dann verhindern wir,
dass wir abstumpfen bei all den Grausamkeiten, von denen die Nachrichten voll sind.
Dass wir nur noch mit den Achseln zucken, wenn wir vom Leid der Menschen hören.

Beten heißt, sich mit dieser Welt nicht zufrieden zu geben.
Offen bleiben für die Hoffnung, dass Gott diese Welt nicht im Stich lässt.
Diese Hoffnung will ich mir nicht nehmen lassen.
Die Zyniker, die Schulterzucker, die Gleichgültigen mögen das für naiv halten,
es ist aber nicht naiv, sondern es macht uns frei, der Welt und der Not gegenüberzutreten.
Für mich ist das etwas ganz Wesentliches und etwas ganz Wunderbares:
Mag sein, vielleicht verändert Gott nicht die Welt, wenn ich ihn darum bitte.
Aber er verändert mich.
Er wirkt in unseren Herzen, wenn wir beten.
Und er schafft Gemeinschaft zwischen denen, die zu ihm beten.
Das ist schon viel!