Die ideale Gemeinde
Meine Abschiedspredigt in der Barfüßerkirche zu Apg 2,41-47
*Die das Wort annahmen, ließen sich taufen.
Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel
und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet.
Es kam aber Furcht über alle Seelen,
und es geschahen auch viele Wunder und Zeichen durch die Apostel.
Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander
und hatten alle Dinge gemeinsam.
Sie verkauften Güter und Habe
und teilten sie aus unter alle,
je nach dem es einer nötig hatte.
Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel
und brachen das Brot hier und dort in den Häusern,
hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen
und lobten Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk.
Der Herr aber fügte täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden.
Wenn ich ehrlich bin, dann sind es mindestens zwiespältige Gefühle,
die dieser Text in mir auslöst.
Auf der einen Seite bin ich ein wenig neidisch:
das müssen damals paradiesische Zustände in der Gemeinde gewesen sein.
Diese Form der tiefen und echten Gemeinschaft!
Diese ansteckende Begeisterung!
Die erste Gemeinde in Jerusalem muss eine große Ausstrahlungskraft gehabt haben,
dass sich so viele Menschen haben taufen lassen.
Sie fand „Wohlwollen beim ganzen Volk“ heißt es,
etwas, das wir so heute wohl kaum mehr sagen würden von der Kirche.
Mein zweites Gefühl ist dann aber auch Skepsis:
Es klingt schon ein wenig zu paradiesisch, was Lukas da schreibt.
Dass es so einmütig und so fromm zuging damals unter den ersten Christen in Jerusalem,
das klingt nach allem, was man in Gemeinden und in der Kirche heute erlebt,
doch eher unwahrscheinlich.
Kein Streit, nirgends - das ist kaum vorstellbar.
Mindestens über die Anfangszeiten der Gottesdienste wird man doch auch damals schon gestritten haben, denke ich mir, und bleibe vorsichtig angesichts so viel Harmonie.
Denn liest man weiter in der Apostelgeschichte,
dann stößt man sehr wohl auf Betrug und Verrat in der Gemeinde,
und vor allem auf Streit und Auseinandersetzung.
Dass der theologische Streit die Kirche am Anfang fast zerrissen hätte,
das beschreibt die Apostelgeschichte sehr genau.
Auch die dunklen Seiten werden also nicht verschwiegen.
Vielleicht ging es Lukas in unserem Predigttext gar nicht so sehr darum,
zu erzählen, wie es damals wirklich war,
sondern uns ein Bild vor Augen zu stellen,
wie die Gemeinde sein könnte.
Ein Ideal, wie die Kirche sein sollte.
Und da meldet sich mein drittes Gefühl:
Ich fremdel ein wenig mit dieser Vorstellung.
Ich weiß nicht, ob ich in einer solchen Gemeinde leben will,
wie sie hier beschrieben wird.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich der Richtige wäre,
in einer solch engen Gemeinschaft zu leben.
Wo bleibt meine Freiheit?
Wo bleibt meine Individualität?
Was müsste ich aufgeben, wenn ich so eng mit vielen anderen Menschen zusammenlebe,
die ich mir im Zweifelsfall ja nicht selbst ausgesucht habe?
Ich gestehe also, dass ich diesen Predigttext
mit einer Mischung aus Neid, Skepsis und Unsicherheit lese.
Und doch weiß ich, dass dieses Ideal des Urchristentums
auf viele Menschen zu allen Zeiten,
nicht zuletzt auch heute, eine große Faszination ausübt.
Es muss also mehr dran sein an diesem Text,
als meine Skepsis und meine Unsicherheit herauslesen.
Zunächst einmal ist da die Erkenntnis, dass es Glauben ohne Gemeinde nicht gibt:
Als Petrus seine berühmte Pfingstpredigt gehalten hat,
haben sich die Menschen spontan der Jerusalemer Gemeinde angeschlossen.
Da steht nicht:
Die Leute hörten die Predigt, waren beeindruckt, und gingen weg,
ein jeglicher zu sich nachhause, um Gott allein zu loben.
Nein, da steht,
dass sich die Menschen taufen ließen
und dass sie ganz selbstverständlich in die Gemeinschaft aufgenommen werden wollten,
die sich im Glauben an Jesus Christus gebildet hatte.
Glaube ohne Gemeinde geht nicht.
Dann ist da dieser Satz,
den die Theologen zu allen Zeiten ganz besonders hervorgehoben haben.
Er fasst zusammen, wie Gemeinde überhaupt sein soll:
„Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel
und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet.“
Vier Dinge sind es, die eine Gemeinde braucht:
die Lehre, die Gemeinschaft, das Abendmahl und das Gebet.
Und es sind eine ganze Menge Dinge, die nicht in dieser Aufzählung erscheinen.
Pfarrerinnen und Pfarrer etwa, Amtsträger in der Kirche -
die scheint es nicht wirklich zu brauchen.
Oder Stadtakademien, oder Beauftragte für Naturwissenschaft und Technik,
oder großartige Kirchenräume, wunderschöne goldene Abendmahlsgeräte, -
all das ist offenbar für die Kirche nicht unbedingt nötig.
Man hat deswegen immer wieder einmal gefordert,
dass sich die Kirche radikal zurückbesinnen sollte auf ihre Anfänge.
Dass sie alles aufgeben sollte, was seit diesen Anfängen dazugekommen ist,
was den Ursprung verdunkelt,
und dass die Kirche wieder leben sollte in der einfachen Weise wie damals.
Das klingt gut. Und es hat einen hohen Reiz.
Aber genau da melden sich wieder meine Skepsis und meine Unsicherheit:
Natürlich sind wir heute anders Gemeinde und anders Kirche
als die ersten Christen Gemeinde und Kirche waren.
Wir leben in einer völlig anderen Welt - und es wäre merkwürdig,
wenn wir in dieser Welt versuchen würden, genauso Gemeinschaft
zu leben wie die Menschen es damals schon nicht wirklich geschafft haben.
Ich glaube, weder damals noch heute sind wir Menschen in der Lage,
so in einer Gemeinde zusammenzuleben, wie Gott sich das für uns wünscht.
Vielleicht sind wir damals wie heute gleich weit entfernt vom Ideal.
Und damals wie heute müssen wir immer wieder bereit sein, uns zu ändern,
alles abzustreifen, was UNS groß und wichtig an unserer Kirche zu sein scheint.
Und genau auf das zu hören, was Gott an seiner Kirche wichtig ist.
Die kirchlichen Ämter und unsere Kirchengebäude,
sie sind nicht der Zweck von Kirche.
Sie dienen einem Zweck.
Sie dienen dazu, dass die Kirche heute das sein kann, was sie sein soll.
Und sie sind auch nur solange sinnvoll, wie sie diesem Zweck dienen.
Wir müssten sie sofort aufgeben und einreißen,
wenn sie sich so in den Vordergrund drängen würden,
dass wir den eigentlichen Zweck aus dem Auge verlieren würden.
Und das ist das dritte und mir das wichtigste, was ich aus diesem Text lese:
Ich glaube, Lukas sagt es uns sehr deutlich, was dieser Zweck ist:
Es geht um die Gemeinschaft, die Glauben und Leben teilen möchte.
Es geht um die Liebe Gottes -
und um das Gefühl, dass diese Liebe viel zu groß für mich ist -
so groß ist, dass ich sie unmöglich für mich behalten kann.
Es geht darum, dass ich diese Liebe weitergeben muss,
weitergeben, indem ich sie in Worte fasse und davon erzähle.
Weitergeben aber auch ganz praktisch an die,
die diese Liebe in ihrem Leben nicht so spüren können wie ich.
Das ist Gemeinde, wie sie Lukas vorschwebt.
Und ich glaube fest daran, dass das die Gemeinde ist, die Gott für uns will:
Eine Gemeinschaft von Menschen, die angetrieben werden
von einer unerschöpflichen Liebe, die sie in ihrem Leben spüren.
Die sich gegenseitig tragen, ermutigen, trösten,
sich in den Arm nehmen und gemeinsam Tränen aushalten.
Die füreinander beten und damit die Not des anderen zu ihrer eigenen machen.
Eine Gemeinschaft, in der die unterschiedlichsten Menschen
in großer Freiheit zusammenkommen können.
Freiheit ist für mich etwas ganz entscheidendes in der Gemeinde.
Alles Kleinkarierte, alles Rechthaberische,
alles Beurteilen und Verurteilen fällt in einer solchen Gemeinde weg.
Niemand muss Angst haben, dass er hier nicht so sein darf, wie er ist.
Die Gemeinde, in der ich leben möchte, ist ein Ort,
an dem der small talk verstummt
und die wirklichen Probleme, Ängste, Sorgen, Freuden zur Sprache kommen.
Ein Ort, an dem sich niemand hinter Fassaden verstecken muss.
An dem man sich gegenseitig nichts vorspielen muss.
Ja ich weiß, im Alltag sind wir oft ein großes Stück
von einer solchen Gemeinde entfernt.
Und ja, ich weiß auch, dass wir als Kirche nicht das „Wohlwollen beim ganzen Volk“ haben,
wie es im Predigttext heißt, oder auch nur das Interesse beim ganzen Volk.
Aber es ist auch nicht so, als dass wir davon gar nichts hätten.
Wie viel ehrenamtliches Engagement steckt in der Barfüßergemeinde (und nicht nur hier),
wie viel Engagement steckt auch im Annahof.
Wie viel Menschen nehmen sich Zeit, um die Asylbewerber in der Kanalstraße zu unterstützen.
Wie viel Menschen sind bereit, drüben im Annahof ein offenes Ohr für diejenigen zu haben, die dorthin kommen und nicht weiter wissen.
Wie viele Menschen interessieren sich für die Themen des Glaubens?
Ich gestehe, dass ich manchmal fast selbst darüber verblüfft war,
wie viele Besucher an so einem Abend in den Annahof kommen.
Auch wenn es um Themen geht, die auf den ersten Blick theologische Spezialthemen sein könnten.
Aber es gibt eine weit verbreitete Sehnsucht, über Wesentliches zu reden.
Darüber, wie es um mein Leben steht, wovor ich mich fürchte, was ich hoffe.
Und manchmal gelingt es zu vermitteln, dass die Kirche idealerweise ein Ort ist,
an dem es genau um solche Themen geht:
Um Glauben und Leben - und darum, dass und wie beides zusammengehört.
Ein Ideal vor Augen zu haben heißt immer auch,
dass man sich mit dem Vorhandenen nicht einfach zufrieden geben kann.
Weil die Kirche eben nie ganz zufrieden mit sich sein kann,
deshalb ist die Kirche immer eine Kirche im Aufbruch.
Sie ist unterwegs zu einem Ideal,
das sie aber vollständig erst am Ende der Tage erreichen wird.
Die Kirche kann nicht einfach stehen bleiben,
ihre Strukturen einfrieren und sagen: das ist es jetzt.
Das kann die Kirche nicht und das können die Menschen nicht,
die hier zusammen arbeiten.
Deshalb brechen Menschen immer wieder auf in der Kirche.
Wir brechen auf, auch wenn’s schön war.
Ich breche auf, auch wenn ich jetzt schon weiß,
was ich und wen ich sehr vermissen werde.
Und ich breche auf im Bewusstsein,
dass ich vielen Menschen hier sehr dankbar bin für die letzten acht Jahre.
Vielleicht ist im Moment ein bisschen viel Aufbruch auf einmal.
Hier in der Barfüßerkirche mit zwei Stellenwechseln
und noch stärker drüben im Annahof, wo wir gleich zu dritt sind, die jetzt gehen.
Aber dieser Aufbruch bietet immer auch eine Chance:
Eine Chance für mich, damit nicht alles beim Alten bleibt.
Und eine Chance für den Annahof und diese Gemeinde,
dass nicht alles beim Alten bleibt.
Nur wenn wir in Bewegung bleiben,
halten wir uns die Möglichkeit offen,
uns dem Ideal der Kirche anzunähern.
Ja, von diesem Ideal sind wir noch immer weit entfernt.
Und trotzdem spüren wir manchmal,
habe auch ich in den letzten acht Jahren hier immer wieder gespürt,
wie Gott seine Kirche gemeint hat:
Als Begegnungsort von Liebe, Gerechtigkeit und Freiheit.
Manchmal blitzt etwas davon auf.
Und dann ist die Kirche viel mehr als nur eine Gemeinschaft von Menschen,
die sich hier oder im Annahof oder wo auch sonst auf der Welt begegnen.
Dann ist die Kirche der Ort, wo sich unsere Zukunft bei Gott zeigt.
Dann schmeckt man in dieser Kirche das Reich Gottes.
Jetzt schon.
Und das finde ich großartig und überwältigend.
Amen.