Wie politisch muss der Gottesdienst sein? | nikolaushueck blog

Wie politisch muss der Gottesdienst sein?

Predigt zu Amos 5,21-24

Eintrag vom

So spricht der Herr:

Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie

und mag eure Versammlungen nicht riechen.

Und wenn ihr mir auch Brandopfer und Speisopfer opfert,
so habe ich kein Gefallen daran
und mag auch eure fetten Dankopfer nicht ansehen.

Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder;

denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören!

Es ströme aber das Recht wie Wasser

und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.

So stellt man sich alttestamentliche Propheten gerne vor:
Mitten in die gute Stimmung hineinplatzen, mitten in das Singen und Harfespielen.
Und dann mit donnernder Stimme Gottes Wort verkündigen:
Mit drohend erhobenem Zeigefinger.
Und mit einem Selbstbewusstsein, dass die Wände wackeln.

So scheint es auch hier zu sein:
Mitten in den Gottesdienst, mitten in die frommen Lieder und Psalmen, mitten in die prächtige Liturgie
lässt Amos die Stimme Gottes hineinplatzen:
Ich hasse Eure Gottesdienste, ich hasse Eure Opfergaben,
ich hasse Eure Lieder.
Hört auf, fromm zu plärren und fangt endlich an, fromm zu handeln.
Lasst Recht zwischen Euch Menschen herrschen statt eurem Gott Tiere zu opfern.
Gerechtigkeit sollt ihr üben, nicht Harfespielen.

Solange ihr Euch nicht um die Menschen neben und um Euch herum kümmert, um die Armen, die Notleidenden, die Kranken:
Solange sind Eure Gottesdienste reine Kulissen, die die gähnende Leere in Euch kaschieren.
Und Eure Frömmigkeit bleibt eine Fassade, hinter der Ihr Eure kalten Herzen versteckt.

Schonungslos ist Amos;
unerbittlich, wenn er Gottes Wort verkündigt.
Ein alttestamentlicher Prophet, der nicht anders kann als zu sagen, was Gott ihm aufträgt,
und der ein Vorbild an Ehrlichkeit ist, ohne Rücksicht auf persönliche Verluste.

Die Frage aber ist, was wir heute aus einem solchen Text machen.
Brauchen wir mehr Propheten in unseren Kirchen, die endlich Klartext sprechen, die endlich sagen, wie ungerecht es in unserer Gesellschaft, auf der Welt zugeht?

Brauchen wir Menschen auf den Kanzeln, die es mit den Propheten des Alten Testaments aufnehmen und die Zeigefinger erheben, um auf die Missstände zu zeigen und die Rechtlosigkeit zu entlarven?

Ich weiß, manche Menschen hätten ihre Kirche gerne so.
Nur sind sich nicht alle einig, was die Missstände denn sind, die entlarvt werden sollen.
Und wo genau die Ungerechtigkeiten liegen, die endlich angeprangert gehören.

Ich gestehe, ich tue mich mit dem erhobenem Zeigefinger insgesamt schwer.
Ich bin kein Prophet, erst recht kein Prophet wie Amos einer war.

Und dabei weiß ich sehr wohl: Manches Unrecht ist so groß, dass man nicht dazu schweigen darf.
In mancher Situation macht sich der, der dazu schweigt, mitschuldig.
Vielleicht sogar besonders der, der auf der Kanzel dazu schweigt.

Dietrich Bonhoeffer hatte schon recht:
„Nur wer für die Juden schreit, darf gregorianisch singen“, hat er gesagt.
Das galt dem Schweigen weiter Bereiche der Kirche zur Judenverfolgung unter den Nationalsozialisten.

Wer damals Gottesdienst feierte und gleichzeitig für das Schicksal der zu Millionen entrechteten, gequälten und ermordeten Juden nur ein Achselzucken übrig hatte, der war ein Heuchler. Ohne Frage.

Und so gilt es bis heute:
Wer nicht aufschreit, wo Menschen gequält, getötet, misshandelt werden, der darf auch nicht so tun, als ob er mit seinem Gott im Reinen wäre.
Der darf vor Gott kommen, um seine Schuld zu bekennen.
Aber er darf nicht Gott loben und ihm danken.
Und er darf auch nicht auf der Kanzel stehen.
Denn da ist Amos davor:

Eine solche Liturgie, die über das Unrecht hinweggingt und hinwegbetet, ist Mummenschanz, so prächtig sie auch sein mag.

Eine solche Predigt, die das Unrecht nicht benennt und die eigene Mitschuld daran verschweigt, die ist Lüge.

Und die frommen Lieder derer, die zur Ungerechtigkeit schweigen, sind Selbstbetrug.

Und trotzdem: Mir persönlich fällt die Geste des erhobenen Zeigefingers schwer.
Gut und Böse, Recht und Unrecht sind ja in den allermeisten Fällen eben nicht so eindeutig verteilt, denke ich mir.
Mein Theologiestudium befähigt mich sicher nicht, meine politische Meinung für die allgemeinverbindliche zu erklären.
Oder auch nur für die Meinung, die der christliche Glaube gebietet.

Wie Gerechtigkeit genau buchstabiert wird, was unter uns als Recht gelten soll, das muss ausgehandelt werden in einem demokratischen Prozess.

Da muss jeder und jede seine Meinung sagen dürfen, da muss diskutiert, darf gestritten werden.

Ein Gottesdienst ist dafür nun gerade nicht die richtige Form.
Wirklich demokratisch offen ist so ein Gottesdienst nicht.
Denn ich kann reden und meine Meinung sagen.
Sie dagegen sind zum Schweigen verurteilt.
Sie können mir, jedenfalls wenn Sie höflich bleiben wollen, erst nach dem Gottesdienst Ihre Meinung sagen und warum ich Ihrer Meinung nach vielleicht völlig falsch liege.

Die Zeiten aber, in denen man von der Kanzel alles besser wusste, die sind - ja, tatsächlich: gottseidank - längst vorbei.

Also nicht der erhobene politische Zeigefinger von der Kanzel.
Was machen wir aber dann mit dem Predigttext?

Ich glaube, die Aufgabe eines Propheten ist es, eine Fassade eine Fassade zu nennen.
Seht her: Was ihr da tut, ist leer geworden.
Ihr kreist um Euch selbst, statt um Gott und den Nächsten.
So höre ich den Amos.

Und das ist für uns Anlass, ganz genau hinzuschauen, was wir machen mit unserem Glauben und unserem Leben.

Ich will zwei Beispiele dafür nennen:

Mein erstes Beispiel:
Wenn fromme Worte zu hohlen Phrasen geworden sind, dann muss jemand laut dagegen protestieren.
Ich gebe zu, dass besonders wir Pfarrer in der Versuchung stehen, uns in eine Sprache zu flüchten, die groß und fromm klingt, die aber wenig zu sagen hat für die wirklichen Fragen des Lebens und des Glaubens.

Wie leicht ist es zum Beispiel, von Gottes Liebe und von Gottes Gnade zu sprechen.
Wie schnell sind solche Worte in den Mund genommen - und wie bitter klingen sie in den Ohren der Menschen, die in diesem Augenblick weder diese Liebe noch diese Gnade spüren können.

Wie vorsichtig müssen wir sein, dass unser Trost nicht billig und schnell und belanglos wird.

Gerade wenn wir zutiefst davon überzeugt sind, dass die Liebe stärker ist als der Hass.
Dass die Liebe von Gott kommt und der Hass von den Menschen.
Wenn wir glauben, dass uns seine Liebe bis in den Tod umgibt und auch darüber hinaus.

Gerade dann müssen wir mit diesen Worten vorsichtig sein, dass sie sich nicht abnutzen. Denn auch Worte können Fassaden sein, hinter denen wir uns und unser Herz vor unseren Mitmenschen verstecken.

Das gilt auch für die Liturgie: Wenn eine Liturgie nur noch um ihrer selbst willen gefeiert wird, weil sie eben so schön klingt.
Aber wenn wir sie nicht mehr verstehen und nicht mehr mit unserer Beziehung zu Gott in Verbindung bringen, dann ist es gut, wenn sie jemand lautstark unterbricht.

Denn dazu ist die Liturgie, sind die Riten zu wertvoll, als dass wir sie formelhaft feiern dürften, ohne Beziehung zu dem, was uns wirklich wichtig ist im Leben.
Auch Liturgien, formelhafte Texte können Fassaden sein, hinter denen wir uns verschanzen.

Mein zweites Beispiel:
Haben wir wirklich unsere eigene Schuld im Sinn, wenn es um das Sündenbekenntnis geht?
Oder denken wir dabei eher an die anderen und was die alles falsch machen?
Und wie ist das mit Bibeltexten, die mit Menschen und ihren Fehlern ins Gericht gehen?
Lassen wir uns dadurch irritieren?
Lassen wir uns dadurch infrage stellen?
Rechnen wir überhaupt damit, dass wir und unsere Fehler gemeint sein könnten?
Oder erscheinen vor unserem geistigen Auge ganz schnell alle die anderen, denen wir die Fehler viel eher zutrauen?

Auch hier stehen wir in der Gefahr, Fassaden um uns herum aufzustellen.
Fassaden, die verhindern, dass wir uns wirklich gemeint fühlen, wirklich infrage stellen lassen, dass wir wirklich etwas ändern müssten in unserem Leben.

Alle diese Fassaden und noch viele mehr bauen wir um uns auf.
Vielleicht können wir gar nicht anders.
Vielleicht sind wir auch nur zu bequem oder zu ängstlich, daran etwas zu ändern.

Und so feiern wir Gottesdienst.

Wenn es gut läuft, dann berührt uns der Gottesdienst.
Der Raum.
Die Stille.
Das Beten.
Ja, auch die Lieder und die wunderschöne Orgel.

Wenn es gut läuft, dann merken wir etwas davon, wie sehr die Fassaden uns trennen.
Wenn es gut läuft, dann bröckeln sie sogar etwas.
Werden durchlässiger.

Gottesdienst bedeutet immer auch, in einer Gemeinschaft zu sein. Sonst würde es ja reichen, wenn man alleine in den Wald zum Beten geht. Aber da fehlt was.

Gottesdienst hat mit Gemeinschaft zu tun – hier im Gottesdienst selber, aber auch danach.
Indem wir unsere Blicke und unsere Sinne auf den Altar und das Kreuz ausrichten,
indem wir gemeinsam auf die Texte hören, bilden wir eine Gemeinschaft, die tiefer geht als nur eine Stunde im selben Raum zu verbringen.
Indem wir gemeinsam vor Gott treten, verbindet er uns untereinander und mit allen Menschen
– symbolisch, aber auch ganz real.

Es sind nicht die prophetischen Predigten, die Recht und Gerechtigkeit heraufbeschwören - Gott selbst ist es, der sie uns schenkt.
Er schenkt uns Recht und Gerechtigkeit, indem er uns berührt.

Wenn wir ihn denn lassen - und unsere Fassaden ihm nicht den Weg versperren zu unseren Herzen.

In den Fürbitten, wie wir sie nachher gemeinsam beten, wird das deutlich:
Wir wenden unseren Blick von uns selbst ab und sehen uns um, wer Gottes Hilfe – und unsere eigene Hilfe – in diesen Tagen ganz besonders braucht.

Ein recht verstandener Gottesdienst trägt dazu bei, dass geschieht, was Amos sich erhofft:
Wir beten und bitten darum, dass Recht wie Wasser strömt und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.

Und indem wir darum beten, lassen wir uns von Gott berühren und verwandeln uns selbst, dass wir dazu beitragen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all' unsere Vernunft,
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.