Kain und Abel und die Wut derer, die sich vernachlässigt fühlen | nikolaushueck blog

Kain und Abel und die Wut derer, die sich vernachlässigt fühlen

Predigt zu Gen 4,1-16a

Eintrag vom

Zwei Texte haben wir heute morgen gehört:
Die Erzählung von Kain und Abel.
Und die Geschichte vom Barmherzigen Samariter,
die Jesus dem Schriftgelehrten erzählt.
Zwei Texte, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
Und die doch direkt etwas miteinander zu tun haben.

In meinen Ohren gibt die eine Geschichte die Antwort auf die Frage der anderen.
„Soll ich meines Bruders Hüter sein?“, fragt Kain.
Und Jesus antwortet genau auf diese Frage:
„Ja, das sollst Du“.
Und nicht nur der Hüter deines Bruders.
Auch deiner Schwester, deiner Familie, der Menschen, die um dich herum sind.
Und noch weiter: Auch die, die weit weg wohnen, die womöglich sogar einem anderen Volk angehören, auch die haben ein Recht auf Deinen Schutz und Deine Hilfe, wenn sie in Not geraten. Auch deren Hüter sollst Du sein - so wie der Samariter sich zur Hilfe an dem Menschen verpflichtet gefühlt hat, der auf dem Weg nach Jericho unter die Räuber gefallen war.

Aber diese Antwort, die Jesus gegeben hat, findet viel zu selten Gehör.
Vielleicht muss man sogar sagen:
Wir, auch wir, die wir diese Antwort Jesu kennen,
stellen trotzdem weiterhin die Frage, die Kain stellt:
Und wir handeln eher so wie Kain.
Und eher weniger so wie der Samariter.
Nein, wir morden nicht.
Wir erschlagen niemanden.
Aber den Neid Kains,
die Missgunst, das Gefühl, zu kurz zu kommen,
das alles kennen wir gut.

Sprechen wir also heute morgen von Kain und von uns.
Drei Gedanken sind es, die mir an dieser Geschichte vom Brudermord, vom ersten Gewaltausbruch in der Geschichte der Menschheit wichtig sind. Sie sind unterschiedlich lang.
Der erste ist der längste.

Mein erster Gedanke also:
Wo kommt eigentlich die Aggression, die Gewalt zwischen Menschen her?
Wie so oft hat das Alte Testament eine klarsichtige, weise und psychologisch gut begründete Antwort:
Aggression und Gewalt, die gibt es schon, seit es Menschen gibt.

Es ist kein Zufall: Zum ersten Ausbruch von Gewalt in der Geschichte der Menschen kommt es zwischen zwei Brüdern.
Also zwischen Menschen, die in einer Art natürlicher Konkurrenz zueinander stehen.

Vielleicht kennen Sie das auch: Brüder, aber natürlich genauso auch Schwestern, beobachten sich oft sehr genau gegenseitig.
Geschwister sind oft die ersten, an denen man sich und die eigenen Leistungen misst.
Geschwister können ungemein empfindlich reagieren, wenn sie das Gefühl haben, benachteiligt zu werden. Sie lauern auf Anzeichen, dass die Eltern den einen bevorzugen könnten, die eine lieber mögen könnten.

Das muss nicht immer so sein. Vielleicht haben Sie ganz andere Erfahrungen.

Aber wo Menschen nebeneinander stehen, wo sie der gleichen Generation angehören, die gleichen Startchancen haben, da kommt es leicht zur Konkurrenz.
Und diese Konkurrenz ist in ihrem Kern eine Konkurrenz um Anerkennung:
Wem gilt die Aufmerksamkeit der Eltern?
Haben sie den anderen lieber als mich?

Das muss ich als Vater schon aus eigener Erfahrung sagen:
Man kann nichts falscher machen, als dem einen Kind das andere als Vorbild hinstellen. Da reagieren Kinder, zumal Jugendliche, zurecht sauer.

Und in dieser Konkurrenz sieht die Geschichte von Kain und Abel den Ursprung der Gewalt:
Im Neid. In der enttäuschenden Erfahrung, dass der andere mehr gilt als ich. Nicht nur bei den Eltern.

In den Augen von Kain ist es Gott, der einen Unterschied zwischen beiden macht.
Er nimmt das Opfer seines Bruders gnädig an, sein eigenes dagegen scheint er zu verschmähen.
Das ist eine Erfahrung, die man niemandem wünscht:
Sich zurückgesetzt fühlen.
Nicht gewürdigt.
Nicht beachtet.
Vernachlässigt.

Dabei ist es gar nicht so wichtig, ob das der Wirklichkeit entspricht.
Es geht allein um das Gefühl, weniger zu gelten als der andere.
Um das Gefühl, schlechter behandelt zu werden.
Um das Gefühl, in seiner Würde verletzt zu sein.
Es ist dieses Gefühl, das nagt und bohrt und schmerzt.
Und das bis in den Kern des Menschen hineinreicht und dort Dinge anrichtet, die den Menschen sich selbst vergessen lassen.

Wenn ich nicht gesehen werde, bin ich nicht.
Das ist der Anfang von aller Aggression, sagt die Bibel.
Ein ungemein lebenskluger und weiser Gedanke.
Jeder mag sich da selbst überprüfen.
Wenn der Erfolg ausbleibt, wenn der Job weg ist, wenn die Familie scheitert,
mit vielem davon könnte man umgehen,
vieles könnte man ertragen.

Aber der Blick der anderen,
ihre überheblichen Gedanken, die man schier hören kann,
das Gefühl, wegen dieses Scheiterns in ihren Augen weniger wert zu sein.
Das Gefühl, sich vor ihnen schämen zu müssen.
Das ist es, was in die Verzweiflung treibt.
Und was dann zu Aggressionen führt, im Extremfall zu Gewalt.

Vielleicht ist das auch eine Erklärung für die unfassbare Wut, die in den letzten Jahren in unserer Gesellschaft so dominant geworden ist.
Sie geht ja oft von Menschen aus, die sich zurückgesetzt fühlen. Die erleben, dass Neuankömmlinge in unserem Land mehr im Fokus der Aufmerksamkeit stehen als sie selbst. Oder das zumindest zu erleben meinen.

Die Wut kommt aus dem Gefühl, nicht mehr die Beachtung zu finden, die man verdient hat.
Weil man Ostdeutscher ist und sich vom Westen überheblich behandelt fühlt.
Oder weil andere Lebensentwürfe und Lebensformen als die eigenen nicht nur möglich werden, sondern viel mehr Aufmerksamkeit erfahren.
Oder weil die Religion, die man für den eigenen Besitz hielt, plötzlich nicht mehr die einzige ist - und scheinbar dem Islam mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird als dem Christentum.

Und weil, das ist vermutlich besonders wichtig, Anerkennung und Aufmerksamkeit Währungen sind, die seit dem Wandel in den Medien noch viel bedeutsamer geworden sind.

Du giltst was, wenn Du Dir Aufmerksamkeit verschaffen kannst. Wenn Du in Facebook viele Freunde, bei Twitter viele Follower und bei beiden viele likes und „gefällt mir“-Belohnungen bekommst.

Keine gute Zeit für Bescheidenheit.
Im Gegenteil: Auftrumpfen, Auffallen mit immer noch extremeren Ansichten und Kommentaren - dadurch versucht man, Anerkennung zu erzwingen.
Dadurch versucht man, etwas von den Kränkungen zu kompensieren, die das Gefühl der Zurücksetzung hinterlässt.

Mein zweiter Gedanke:

Natürlich durchschaut Gott diesen Kreislauf der Gefühle.
Wer sich nicht beachtet fühlt, zweifelt an sich selbst.
Wer an sich selbst zweifelt, verbittert.
Und aus dieser Verbitterung entstehen Aggressionen gegen andere Menschen.
So wird Kain zum Mörder seines Bruders.
Gott versucht noch, Kain zu stoppen:
„Der Herr sprach zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? Ist’s nicht also? Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.“

Für mich gehören diese Sätze zu den wunderbarsten in der ganzen Bibel.
Sie sagen in aller Kürze, was Glaube, was Frömmigkeit ist.
Und sie zeigen damit einen Ausweg aus dem zerstörerischen Kreislauf unserer Gedanken, die ewig nur um uns selbst kreisen.

Was tun wir Menschen?
Wütend sein, wenn und weil wir uns leicht zurückgesetzt fühlen.
Den Blick senken, also die Augen abwenden von den anderen Menschen um uns herum.

Und was will Gott?
Dass wir den Blick heben.
Dass wir die Menschen neben uns wahrnehmen.
Nicht als Konkurrenten, sondern als Menschen, die Gott genauso liebt wie er uns liebt.

Wir sollen die Menschen mit den Augen Gottes sehen.
Mit den liebenden Augen Gottes.
Als Geschwister, die uns nahe stehen, weil sie ebenso Kinder Gottes sind wie wir selbst.
Den Blick auf diese Weise heben und die Menschen neben mir auf diese liebende Weise sehen zu können - das bedeutet fromm zu sein.

Nicht Gott Opfer bringen,
nicht das schönere, größere Opfer als mein Nachbar zu bringen.
Fromm zu sein heißt die Perspektive zu wechseln.
Die Welt mit den Augen Gottes zu sehen.
Und darin die Menschen mit der Liebe Gottes zu sehen.
Die anderen Menschen - aber auch mich selbst.

Diese Liebe ist die Medizin gegen die Verbitterung.
Denn, mit den Augen Gottes betrachtet:
Es geht nicht um Konkurrenz, es geht nicht ums besser sein,
es geht nicht um mehr likes.
Bei Facebook, da schon,
aber nicht im wirklichen Leben.

Wenn ich mich selbst mit den Augen Gottes sehe,
dann sehe ich vieles, was weder ihm noch mir gefällt.
Aber ich sehe, dass er mich liebt, und ich lerne, mich selbst zu lieben.

Dafür muss ich den anderen nicht klein machen, erst recht nicht, ihn als Konkurrenten vom Erdboden vertreiben.

Aber Kain entscheidet sich anders.

Mein letzter, sehr kurzer Gedanke:
„Soll ich meines Bruders Hüter sein?“
Soll heißen: Der kann doch schließlich auf sich selbst aufpassen. Der ist doch selbst ein Hüter, ein Schafhirte, der auf seine Herde aufpassen soll. Dann wird er sich doch auch um sich selbst kümmern können.

Diese scheinheilige Frage macht noch einmal sehr deutlich, wie wenig Kain von der Liebe Gottes verstanden hat.
Wie wenig er davon spüren kann.

Und genau in dieser Frage finden wir uns selbst wieder.
Wie leicht ist es, die Verantwortung für andere abzutun.
Wir können schließlich nicht für alle da sein.
Das Elend, die Not, die menschlichen Katastrophen, die uns die Medien täglich aus der ganzen Welt in unsere Wohnzimmer übertragen - nein, wir können uns nicht für alle verantwortlich fühlen. Das überfordert uns.

Und trotzdem gehen sie uns etwas an.
Wer frei den Blick erhebt, kann ihn nicht gleichzeitig abwenden.
Wegschauen gilt nicht.
Genau hinsehen und immer überlegen, was wir tun können.
Wo wir helfen können.
Wo wir ein gesellschaftliches Klima schaffen, in dem Hilfe höher steht als Konkurrenz.
Zuerst in unserer Familie und in unserer Nachbarschaft.
In unserer Stadt und in unserem Land.
Dann aber auch dort, wo Menschen vor Grausamkeiten fliehen, die wir uns hier in Europa kaum vorstellen können.
Menschen, die der Krieg, der Hunger, das Elend an die Ränder unseres Kontinents treiben.
Die elend sterben in den Flüchtlingslagern Nordafrikas oder auf dem Meer, das sie von uns trennt.

„Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde“, sagt Gott.
Das verschüttete und ertrunkene und achtlos vergeudete Leben schreit!
Gott hört dieses Schreien.
Wir nicht, nicht immer, viel zu oft nicht.
So sind wir Menschen.
Aber wir müssen nicht so sein.
Wir haben die Möglichkeit, den Kopf zu heben.
Den Blick auf Gott zu richten.
Und unsere Ohren und Augen für unsere Brüder und Schwestern zu öffnen.
Das wäre die Frömmigkeit, von der Gott zu Kain spricht.
Amen.