Die Bilder ins Diesseits holen | nikolaushueck blog

Die Bilder ins Diesseits holen

Predigt zu Jesaja 35,3-10

Eintrag vom

Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie!
Sagt den verzagten Herzen: »Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott!
Er kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen.«
Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden.
Dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch, und die Zunge des Stummen wird frohlocken.
Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande. 
Und wo es zuvor trocken gewesen ist, sollen Teiche stehen, und wo es dürre gewesen ist, sollen Brunnquellen sein. Wo zuvor die Schakale gelegen haben, soll Gras und Rohr und Schilf stehen.
Und es wird dort eine Bahn sein und ein Weg, der der heilige Weg heißen wird.
Kein Unreiner darf ihn betreten; nur sie werden auf ihm gehen; auch die Toren dürfen nicht darauf umherirren. Es wird da kein Löwe sein und kein reißendes Tier darauf gehen; sie sind dort nicht zu finden, sondern die Erlösten werden dort gehen.
Die Erlösten des Herrn werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen;
ewige Freude wird über ihrem Haupte sein;
Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen.

Ich stelle mir das bildlich vor:
Das Volk Israel sitzt an den Wassern von Babylon und weint.
Weit weg von Jerusalem, herausgerissen aus dem Zuhause, als Beute eines fremden Volkes.
Sie sitzen, den Kopf in die Hände gestützt, schauen mit leerem Blick auf den Boden.
Weinen um ihre Heimat, die sie haben verlassen müssen.
Weinen um ihre Freiheit, die ihnen geraubt wurde.
Weinen um Gott, der sich vor ihnen verbirgt.
So sehr sie auf ihn gehofft hatten, so verlassen fühlten sie sich jetzt von ihm.

Je länger sich die Zeit hier in der babylonischer Gefangenschaft dehnte,
umso blasser wurde die Hoffnung.
Umso mutloser die Reden.
Umso kleiner der Glaube, dass Gott noch etwas von ihnen wissen wollte.

Bis der Prophet auftrat.
Bis der Prophet ihnen von seinen Träumen erzählte.
In den buntesten Farben und mit großer Kraft.

Er erzählt von blühenden Wüsten und wilden Tieren, die plötzlich friedlich werden.

Er erzählt davon, dass Lahme gehen, Taube hören, Blinde sehen können.
Und vor allem: Er erzählt, dass Gott sie nicht im Stich lässt. Dass er die, die sie hierher verschleppt haben, bestrafen wird.
Dass er die Gerechtigkeit wiederherstellen wird.

Und schließlich erzählt er von einem Weg durch die Wüste.
Ein Weg, der sie zurückführt in ihre Heimat.
Ein Weg, auf dem nur sie gehen dürfen.
Keine fremden Soldaten schleppen sie irgendwohin.
An dieses trostlosen Ort sind sie als Gefangene gekommen, durch die endlose, trockene Wüste, in Fesseln und mit blutigen Rücken von den Schlägen der Bewacher.

Der Rückweg wird ganz anders sein:
Er wird durch eine fruchtbare Landschaft führen.
Sie werden aufrecht gehen, sie werden singen, und sie werden den Berg Zion erreichen, Jerusalem, ihre Heimat, da, wo sie sich Gott ganz nahe fühlen.
Das Weinen und Klagen, das Gefühl der Verlassenheit, der Schmerz und das Seufzen werden aufhören. Sie werden sich verwandeln in Jauchzen und ewige Freude.

Nur ein Traum? Ein frommer Wunsch?
Die Vision eines Menschen, der das Elend im Exil nicht mehr erträgt?

Nein: Die Vision entfaltet eine ungeheure Kraft.
Vor den Augen der Verzweifelten entstehen Bilder, die Hoffnung wecken.
Es sind Gegenbilder zu einer Welt, in der der Schmerz und der Kummer und das Leid und das Elend die Köpfe und Herzen der Menschen beherrschen.

Solche Gegenbilder brauchen Menschen, sonst verzweifeln sie.
Solche Gegenbilder brauchen wir Menschen, damit wir lebendig werden.

Damit wir Hoffnung bekommen, vielleicht sogar mutig werden.
Würden wir immer nur auf den Boden sehen, wie das Volk Israel im Exil, dann würde sich in dieser Welt nichts ändern.

Dann würden die Starken die Starken bleiben, die Lahmen die Lahmen und die Blinden die Blinden.
Die Wüsten würden trocken und lebensfeindlich bleiben.

Wir aber haben Gegenbilder:
Bilder vom Frieden.
Vom Frieden in der Natur, vom Frieden zwischen Menschen.
Von einem Frieden, der zugleich Gerechtigkeit ist.

Überall in der Bibel begegnen wir diesen Bildern.
Nicht nur beim Propheten Jesaja.
Auch in den Evangelien, in den Taten und Worten Jesu.
Bilder, die dem Schwachen Hoffnung geben - und den Starken an seine Verantwortung erinnern.

Bilder von Gesichtern, von denen die Tränen abgewischt werden.
Bilder von Menschen, die erlöst sind von den Schmerzen dieser Welt.

Es sind Bilder vom Leben, wie es einmal sein wird.
Und wie es heute schon sein sollte.
Diese Bilder, die sind der eigentliche Schatz des Glaubens.

Aber sie leuchten nicht jedem ein:
„Schön wär’s“, höre ich die Kritiker sagen.
Damals dem Jesaja, heute uns.

„Wo bleibt er denn, euer Gott? So oft angekündigt und nie gekommen?“, spotten die Zweifler.

„Ihr träumt euch da in etwas hinein. Ihr erträumt eine Zukunft und vergesst die Gegenwart“, sagen die Skeptiker. „Letztlich vertröstet ihr die Menschen, die jetzt leiden müssen, auf einen Himmel, der ja doch nie kommen wird“.

Und darauf müssen wir ersteinmal antworten:
So Unrecht haben sie nicht.
Auf eine Art betrachtet.

Denn Gott hat unsere Welt noch nicht nach diesen wunderbaren Bildern gestaltet.

Die Israeliten sind zwar tatsächlich nachhause zurückgekehrt, zum Zion.
Aber was sie dort vorgefunden haben, war eher trostlos.
Jedenfalls nur sehr bedingt ein Anlass zum Jauchzen und Jubeln.

Und wir: Wir feiern seit 2000 Jahren die Ankunft Gottes auf dieser Welt, immer wieder, mit jedem Advent und mit jedem Weihnachten - aber geändert?
Hat sich denn wirklich etwas geändert?
Ist die Welt insgesamt wirklich friedlicher, gerechter geworden?
Wir müssten blind sein, wenn wir das ehrlich bejahen wollten.

Auf den ersten Blick haben die Skeptiker und Spötter also recht.
Und trotzdem will ich diese Bilder niemals loslassen.
Es bleiben für mich Bilder, die wir von Gott geschenkt bekommen haben.
Und diese Bilder prägen uns. Es sind eben nicht „nur“ Bilder.
Sie bewirken etwas.
Sie richten unseren Blick nach oben. Auf Gott.
Sie lassen uns aufschauen. Unsere Köpfe heben.
Auf das schauen, was kommen wird.
Und weil es kommen wird, bestimmt es schon heute unser Leben.
Wenigstens unser Leben. Wenn schon noch nicht das Leben der ganzen Schöpfung.

Die Vision, die wir bei Jesaja lesen, ist eben nicht nur ein Traum, der am nächsten Morgen verblasst und schließlich in Vergessenheit gerät.
Diese Vision ist Wirklichkeit, weil sie die Menschen verändert.
Sie ist Wirklichkeit, weil sie nicht nur davon erzählt, wie Gott kommen wird.
Sie ist Wirklichkeit, weil Gott durch diese Bilder tatsächlich kommt in die Herzen der Menschen, die darauf vertrauen.
Und genau dadurch verändert sich etwas.
In uns.
Und dann in der Welt.
Durch uns.

Das ist es doch, worum es in unserem Glauben geht:
Sich die Zukunft von Gott erwarten
und in dieser Erwartung leben, hoffen, lieben.
Die Bilder des Friedens Gottes ins Diesseits holen, jetzt schon.

Morgen zum Beispiel ist Tag der Menschenrechte.
Vor ein paar Tagen schon gab es dazu im ZDF einen sehr beeindruckenden Film.
Claus Kleber, vielen als Moderator des heute journal bekannt, ist durch die Welt gereist und hat mit zahlreichen Menschen gesprochen.
Menschen, die sich in ganz unterschiedlicher Weise und ganz unterschiedlichen Situationen für die Rechte auch der Schwachen einsetzen.

Zum Beispiel die Bäuerin aus Guatemala, die es bis vor ein Gericht in Kanada geschafft hat. Sie klagt dort gegen einen Konzern, der ihre Heimat zerstört.
Genau dort, wo sie und ihr Dorf einmal eine Heimat hatten, genau dort entsteht ein riesiger Tagebau.
So oft schon hat man ihnen Schlägertrupps ins Dorf geschickt, um sie mürbe zu machen.
So oft schon hat sie Schläge, Vergewaltigungen, ja sogar einen Mord mitansehen und erleiden müssen.
Trotzdem lässt sie nicht locker.
Sie bekämpft die Ungerechtigkeit, die sie und ihr Dorf überrollt. Das Gerichtsverfahren in Kanada ist noch nicht vorbei.
Noch hofft sie auf Gerechtigkeit.

Oder die Krankenschwester in Kenia, die zu den vergessenen Frauen im platten, weiten Land fährt, um ihnen medizinische Hilfe und Aufklärung zu bringen -
trotz aller Anfeindungen,
trotz der Skepsis der Männer, für die die Frauen einfach nur funktionieren sollen.
Sie hat einen so unerschütterlichen Mut und strahlt eine so unfassbar große Zuversicht aus.
Kein Weg zu den Frauen ist ihr zu weit und keine Straße zu gefährlich, als dass sie die Frauen im Stich lassen würde.

Oder der türkische Chefredakteur, ein Kritiker Erdogans. Monatelang war er eingesperrt, aber, kaum aus dem Gefängnis entlassen, nimmt er seine Arbeit wieder auf.
Schreibt kritisch, schreibt auch das, was die anderen Medien sich nicht zu schreiben trauen.
Und behält dabei seinen Humor.
„Wer Angst hat“ sagt er, „kann kein guter Journalist sein“. Morgens, wenn Istanbul langsam erwacht, sitzt er im Café am Ufer und hört den Vögeln zu. Ein Klang, nach dem er sich im Gefängnis so lange gesehnt hatte.
Danach geht er in die Redaktion und schreibt Artikel, die ihn jederzeit wieder in Haft bringen könnten.

Woher kommt diese Energie, sich so dermaßen vorbehaltlos einzulassen auf den gefährlichen Kampf um Recht und Gerechtigkeit?
Woher kommt dieser Wille, auch wenn sich vielleicht scheinbar gar nichts, oder nur sehr, sehr wenig erreichen lässt.
Auch wenn es immer wieder Rückschläge gibt, die Stärkeren immer wieder triumphieren?
Was treibt diese Menschen an?

Ich glaube: Es sind die Bilder in ihren Köpfen und in ihren Herzen, von denen sie ihr Leben bestimmen lassen.
Es sind Bilder von einer Welt, in der das Recht die Starken davon abhält, mit den Schwachen zu machen, was sie wollen.

Bilder von einer Welt, in der sich Menschen gegenseitig zuhören, in der die eine mit dem anderen mitleidet, statt ihn auszunutzen.
Bilder von einer Welt, die auf Ausgleich und Solidarität setzt statt immer nur darauf, dass der Starke ewig stärker bleibt als der Schwache.
Das ist es, stelle ich mir vor, was diese Menschen antreibt.

Sage niemand, dass Bilder nicht mächtig sind.
Dass sie „nur“ Bilder seien.
Im Gegenteil: Bilder verändern die Köpfe und Herzen der Menschen,
sie verleihen ungeahnte Kräfte,
manchmal verleihen sie sogar Flügel.

Unsere Bilder kommen aus der Bibel.
Sie malen uns vor Augen, wie Gott das Licht in unsere Finsternis bringt.
Wie er den Frieden bringt in die fruchtlosen und aufreibenden Kämpfe der Menschen.
Die Freude in die Trauer.
Die Hoffnung in die Verzweiflung.
Die Gerechtigkeit mitten in unsere Gesellschaft.
Die Erlösung zu uns Menschen, die wir so in uns selbst verknotet und ewig nur mit uns selbst beschäftigt sind.
Dafür haben wir starke, schöne, mutmachende Bilder geschenkt bekommen.
So wird es einmal sein.
Und davon können wir jetzt schon leben.
Deshalb:
Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie!
Sagt den verzagten Herzen: »Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott!

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft
bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.