Barmherzigkeit als Lebensgefühl | nikolaushueck blog

Barmherzigkeit als Lebensgefühl

Predigt zu Lk 6,36-42

Eintrag vom

Jesus Christus spricht:
Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.
Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet.
Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt.
Vergebt, so wird euch vergeben.
Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch zumessen.
Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann denn ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen?
Ein Jünger steht nicht über dem Meister; wer aber alles gelernt hat, der ist wie sein Meister.
Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr?
Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge?
Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, danach kannst du sehen und den Splitter aus deines Bruders Auge ziehen.

Nachts war es, so gegen ein Uhr.
Es war stockdunkel und es schüttete wie aus Kübeln.

Ich bin mit dem Fahrrad unterwegs, möchte möglichst schnell nach hause, es ist kalt und ich bin ohnehin schon nass, fast bis auf die Knochen.
Weil ich zu schnell bin, verklemmt sich mein Vorderrad in einer Trambahnschiene, ich steige wenig elegant und sehr unsanft über den Lenker nach vorne ab und lande auf dem Kopfsteinpflaster.

Für einen Moment überlege ich noch, ob mir etwas weh tut.
Da taucht neben mir eine Gang von fünf Jugendlichen auf.
Sie sprechen eine fremde Sprache und sehen auf den ersten Blick nur wenig vertrauenserweckend aus.
Zwei von ihnen kommen auf mich zu.
Zwei weitere gehen zu meinem Fahrrad.

Rundum ist kein anderer Mensch zu sehen.
Ich fühle mich unwohl, und das nicht nur, weil mein linkes Schienbein schmerzt.
Ich überlege schon, wie viel Geld wohl gerade in meinem Geldbeutel ist und was ich sonst noch an Wertsachen bei mir habe.

Und – was passiert?
Die beiden helfen mir auf, fragen, ob ich mich verletzt habe.
Zwei andere heben mein Fahrrad auf, das ein paar Meter hinter mir auf dem nassen Boden liegt.
Sie lassen mich erst weiterfahren, als ich ihnen versichere, dass mir wirklich nichts Ernsthaftes passiert ist.

Ich bedanke mich herzlich, biege den Fahrradlenker zurecht und fahre weiter.

Natürlich: Ich weiß, dass ich keine Vorurteile haben soll.
Dass das aber auch mitten in der Nacht, im Stockdunkel und bei strömendem Regen gilt, das habe ich kaum je so eindrücklich erfahren wie an diesem Abend.

„Richtet nicht, so werdet auch ihr nicht gerichtet“, sagt Jesus.
Das klingt ganz einfach. Ist aber unendlich schwer.

Wenn wir Menschen zum ersten Mal begegnen, dann setzt ganz unweigerlich ein erstes Abtasten ein.
Vertrauenswürdig oder nicht?
Sympathisch oder nicht?
Meist geht das in Sekundenschnelle - und man hat schon ein erstes Urteil gefällt.
Schublade auf, das Gegenüber wird einsortiert, Schublade zu.

Ich glaube, wir können gar nicht anders.
Das ist vermutlich eine Folge der Evolution.
In der Geschichte der Menschheit gab es sicher Situationen, wo es überlebenswichtig war, Umgebung, Tiere, Menschen schnell und richtig einzuschätzen.

„Richtet nicht, so werdet auch ihr nicht gerichtet“.
Vielleicht ist es ja auch gar nicht so schlimm, dass man sich schnell einen ersten Eindruck verschafft.
Vielleicht geht es ja eher darum, dass man dem anderen danach eine Chance lässt, diesen ersten Eindruck zu korrigieren.
Vielleicht heißt „nicht richten“ ja: flexibel bleiben.
Vielleicht heißt „nicht richten“ ja: das Bild, das ich mir von meinem Gegenüber mache, muss veränderbar bleiben. Muss sich wandeln können. Zum Besseren, aber auch zum Schlechteren.
Und das immer wieder.

Schwierig wird es, wenn ich mir ein Bild von einem Menschen oder einer Gruppe von Menschen mache, die ich gar nicht persönlich kenne. Dann gebe ich nie eine Chance, sein Bild in meinen Augen zu verbessern.

Die Menschen, die aus aller Welt kommen und bei uns Zuflucht und Asyl suchen:
Nirgendwo haben sie einen so schlechten Ruf wie ausgerechnet dort, wo man sie kaum antrifft.
Wo die Chance gering ist, tatsächlich einen geflüchteten Menschen kennenzulernen, dort ist der Hass auf die gesamte Gruppe am größten.
Das Urteil, das man durch die Medien von denen hat, die bei uns Schutz suchen - die Chance, dieses Urteil jemals zu korrigieren - nirgendwo ist sie so gering wie dort, wo am wenigsten von ihnen sind.

„Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet.“
Eigentlich wissen wir das ja.
Eigentlich wissen wir ja, dass wir uns von Menschen kein Bild machen sollen
und dass wir sie schon gar nicht für alle Zeiten darauf festlegen sollen.
Eigentlich wissen wir, dass wir uns nicht über andere Menschen stellen sollen.
Und übrigens auch nicht unter sie.

Aber es ist halt schwierig.
Gerade für die, die einen festen moralischen Kompass haben.
Gerade für die, die wissen, welche Werte ihnen im Leben wichtig sind.
Gerade für uns Christen ist das doch besonders schwierig:
Einen festen Glauben haben, der uns durch’s Leben trägt.
Und gleichzeitig: andere anders sein lassen.
Sie nicht bewerten, nicht beurteilen, nicht über sie herziehen.

Nicht über ihren Lebensstil, nicht über ihren Glauben, nicht über ihr Äußeres.

Denn, auch das merken wir doch immer wieder:
Es bestärkt uns in unseren Ansichten, wenn wir uns damit von den anderen abgrenzen.
Es macht uns größer, wenn wir andere klein machen können.
Jedenfalls ist die Versuchung dazu enorm.

Der geniale Gerhard Polt hat diese Einstellung auf den Punkt gebracht:
„D'Anni hat gsagt, dass diese Frau Mittermeier, dass die also so nachtragend is, des, sagt sie, des vergißt sie ihr nie.“

Stop, sagt Jesus genau an dieser Stelle.
Er nennt es sogar Heuchelei, wenn wir meinen, auch nur um einen Deut besser zu sein als die anderen.

Ja, ich glaube tatsächlich: Wir, die wir hier in der Kirche sitzen und Gottesdienst feiern, wir sind um nichts, um rein gar nichts besser als die Menschen, die in diesem Moment draußen vorbeigehen.
(M+M: gegenüber wohnen, nicht im Traum daran denken, in einen Gottesdienst zu gehen - und um diese Uhrzeit noch in ihrem Bett liegen)

Das, was uns unterscheidet, ist einzig und allein unser Glaube an einen barmherzigen Gott.
Einen Gott, der uns vergibt.
Einen Gott, der uns mit Augen ansieht, in denen aus unerklärlichen Gründen Liebe liegt.
Der Glaube an einen liebenden, barmherzigen, vergebenden Gott - der unterscheidet uns.
Sonst nichts.

Es ist kein Zufall, dass unser Predigttext genau damit beginnt:
Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.

In diesem kurzen Satz liegt schon alles, was danach folgt.
Wer barmherzig ist, richtet nicht über andere, macht sie nicht nieder und begegnet ihnen auf Augenhöhe.
Wer barmherzig ist, vergibt.
Wer barmherzig ist, schaut nicht so ganz genau hin, wenn er gibt. Sondern gibt gerne.
Wer barmherzig ist, sieht eher den Balken im eigenen Auge. Und übersieht den Splitter im Auge des anderen.

Barmherzigkeit, wie Jesus sie meint, ist, glaube ich, ein Lebensgefühl.
Nicht anstrengend, nicht gequält oder gezwungen.
Nicht: „Nun muss ich auch noch barmherzig sein“.
Sondern fröhlich.
Fröhlich, weil Gott mit mir barmherzig ist.

Und ja: Das ist genau das, was ich brauche.
Einen Gott, der mehr als gnädig mit mir ist.
Der sieht, was ich alles falsch mache,
wo ich bequem und faul bin,
wo ich mich zu wenig für die anderen einsetze,
wo ich zu träge zum Nachdenken bin,
wo ich schlecht über andere denke und rede.

Ein Gott, der das alles sieht, und der mich trotzdem liebt.
Das ist etwas unfassbares Wunderbares.

Und weil das so wunderbar ist, darf ich diese Haltung selbst auch haben.
Die Fehler der anderen sehen, aber sie dafür nicht verurteilen.
Die Notlagen der anderen sehen - und ihnen helfen.
Die Dummheiten der anderen sehen - und sie trotzdem für voll nehmen.

Ja, auch die Menschen, die mir nicht sonderlich sympathisch sind.
Ja, auch und gerade die, von denen ich dafür keinerlei Gegenleistung erwarte.

Denen helfen, von denen man selbst auch Hilfe erwartet - das kann jeder.
Das macht auch jeder, schon aus Klugheit.

Jesus meint mehr als das.
Viel mehr als das.
Jesus meint Barmherzigkeit.
Nicht Barmherzigkeit, die schon wieder auf sich selbst stolz ist.
Sondern eben Barmherzigkeit als Lebensgefühl.

Das traut er uns zu.
Fang einfach mal damit an, sagt er in unserem Predigttext.
Einfach mal kein Heuchler sein.
Einfach mal nicht geizig sein.
Einfach mal kein Rechthaber sein.
Einfach mal kein Hobbyrichter sein.

Sondern barmherzig. Offen für die anderen.
Du musst keine Angst haben, dass der andere darauf nicht so reagiert, wie Du es erwartest.
Dass dich jemand ausnützt.
Kann sein.
Du aber hast Gott.

Und Gott sagt: In diesem anderen, der Dich braucht -
Dich, Deine Fröhlichkeit, Deine Barmherzigkeit -
in diesem anderen begegnest Du mir.
Ja, nichts anderes ist Barmherzigkeit:
In jedem anderen Gott selbst begegnen.

Unser Glaube hilft uns in den schweren Stunden.
Das ist unschätzbar wichtig. Unser Glaube gibt uns Trost, wenn es dunkel ist.
Unser Glaube hilft uns aber auch, wenn es draußen Sommer ist und die Vögel zwitschern.
Dann hilft uns unser Glaube zur Barmherzigkeit.
Dann hilft er zur Fröhlichkeit.
Dann hilft er dazu, unsere Ängstlichkeit zu überwinden.
Dann hilft er zur Freiheit.
Auch das ist der Glaube, den ich von Jesus lernen will.
Amen.

Und der Friede Gottes,
der höher ist als all unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus,
Amen.