Wunder glauben?
Predigt zu Apg 3,1-10
Petrus und Johannes gingen hinauf in den Tempel um die neunte Stunde, zur Gebetszeit.
Und es wurde ein Mann herbeigetragen, der war gelähmt von Mutterleibe an;
den setzte man täglich vor das Tor des Tempels, das da heißt das Schöne, damit er um Almosen bettelte bei denen, die in den Tempel gingen.
Als er nun Petrus und Johannes sah, wie sie in den Tempel hineingehen wollten, bat er um ein Almosen.
Petrus aber blickte ihn an mit Johannes und sprach: Sieh uns an!
Und er sah sie an und wartete darauf, dass er etwas von ihnen empfinge.
Petrus aber sprach: Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir:
Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher!
Und er ergriff ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf.
Sogleich wurden seine Füße und Knöchel fest, er sprang auf, konnte stehen und gehen und ging mit ihnen in den Tempel, lief und sprang umher und lobte Gott.
Und es sah ihn alles Volk umhergehen und Gott loben.
Sie erkannten ihn auch, dass er es war, der vor dem Schönen Tor des Tempels gesessen und um Almosen gebettelt hatte;
und Verwunderung und Entsetzen erfüllte sie über das, was ihm widerfahren war.
Die Szene kennen wir alle:
Ein Bettler vor der Kirchentür, vor den Toren eines großen Kaufhauses,
am Königsplatz oder in der Annastraße.
Die Menschen gehen an ihm vorbei. Schauen leicht peinlich berührt zur Seite.
Sind unsicher, ob sie etwas geben sollen - oder ob das dann doch letztlich bei der Bettler-Mafia landet, von der die Zeitung immer wieder schreibt.
Man selbst spürt diese Unsicherheit auch, diese Peinlichkeit.
Ich gebe manchmal Geld für die unwichtigsten Dinge aus.
Die 50 Cent für einen, der es wesentlich nötiger hat als ich, die drehe ich dreimal um.
Der Mann sitzt da, hält einen kleinen Pappbecher vor sich.
Er schaut auf den Boden.
Es ist, als ob nicht nur die Passanten seinem Anblick ausweichen.
Auch er weicht den Blicken der Menschen aus.
Vor Scham vielleicht.
Was er sieht, das sind höchstens die Füße der Vorbeigehenden.
Abgerissene Turnschuhe oder glänzende Lackschuhe,
staubig oder frisch geputzt,
das ist es, was der Bettler zu Gesicht bekommt von den Menschen.
Nicht viel anders hat es damals in Jerusalem ausgesehen:
Der Bettler saß vor dem Tempel.
Ein Ort, der für ihn unerreichbar war.
Menschen, die krank oder behindert waren, galten als unrein.
Der Tempel blieb ihnen verschlossen.
Sein ganzes Leben ist dieser Mensch auf fremde Hilfe angewiesen.
Erst ist er darauf angewiesen, dass man ihn dorthin trägt, zu dem Tor, das das Schöne heißt.
Dann darauf, dass Menschen auf dem Weg zum Tempel milde gestimmt sind.
Dass sie ihm etwas geben.
Und schließlich darauf, dass man ihm am Abend von den paar Münzen etwas Brot kauft, ihn versorgt.
Auch das konnte er ja nicht selbst tun.
Ich kann mir vorstellen, dass diese vollständige Abhängigkeit mürbe macht mit der Zeit.
So ganz ohne Hoffnung, dass sich je etwas ändert.
Vielleicht ist das das Schlimmste: Diese absolute Hoffnungslosigkeit.
Keine Besserung in Sicht, schon gar keine vollständige Heilung.
Das lässt verzweifeln.
Das lässt den Blick senken vor einem so mächtigen und so unentrinnbaren Schicksal.
Nun sitzt er da und sieht auf die Füße der Vorübergehenden.
Alte Füße und junge, staubige und saubere, Arbeiterfüße und solche, denen man die feine Herkunft ansieht.
Da kommen Petrus und Johannes vorbei. Sie sind auf dem Weg zum Tempel.
Was wäre eigentlich passiert, wenn sie ihm ein paar Münzen gegeben hätten und weitergegangen wären?
Vermutlich hätte sich der Bettler bedankt, vielleicht hätte er sich sogar richtig gefreut darüber.
Aber er wäre weiter dort gesessen, und die beiden Jünger wären danach einfach weitergegangen.
Auch sie hätten vielleicht ein ganz gutes Gefühl gehabt.
Aber alles wäre beim Alten geblieben.
Unten der Bettler, oben die Geber.
Hier der, der abhängig ist und da die, die geben.
Nichts hätte sich geändert.
Aber Petrus und Johannes machen etwas, das der Gelähmte so noch nicht erlebt hat.
Sie bleiben stehen und fordern ihn auf, seinen Blick zu heben.
Sieh uns an!, sagen sie.
Und er sah sie an und wartete darauf, dass er etwas von ihnen empfinge.
Vielleicht ist das die Schlüsselszene in der ganzen Geschichte.
Den Blick heben, Menschen in die Augen schauen,
das hatte der Gelähmte wahrscheinlich schon völlig verlernt.
Vielleicht fällt es ihm auch ersteinmal schwer.
Vielleicht braucht es etwas, bis er den beiden in die Augen schauen kann.
Dann aber sieht er sie.
Sieht ihre freundlichen Gesichter.
Ein Blickwechsel, in dem unendlich viel liegt.
Es begegnen sich zwei Welten.
Es begegnen sich die gesammelte und tieftraurige Hoffnungslosigkeit auf der einen Seite.
Und auf der anderen Seite der Glaube der Jünger: der Glaube an Jesus Christus, die Kraft, die Berge versetzen und die Welt verändern kann:
Tiefe Verzweiflung trifft auf überschäumende Hoffnung.
Das ist für mich der Mittelpunkt der Geschichte.
Der Rest ist schnell erzählt:
Wie sie ihm Heilung zusprechen im Namen Jesu Christi.
Wie sie ihm aufhelfen.
Wie er allmählich seinen sicheren Stand wieder findet.
Sich nun auf Augenhöhe mit den beiden Jüngern befindet.
Wie er schließlich aller Welt von seiner Heilung erzählt, sie aller Welt vortanzt.
Und wie die Menschen sich im wahrsten Sinn ver-wundert die Augen reiben, dass dieser Gelähmte, den sie nur als Bettler vor dem Tempeltor kannten, dass der nun da herumspringt und singt.
Eine in der Tat wunderschöne Geschichte, eine Geschichte von der Kraft des Glaubens.
Eine Geschichte, die Mut machen will,
die von der Macht Gottes erzählen und uns zum Glauben an ihn und seine Hilfe bringen will.
Die Frage ist nur: Was machen wir heute damit?
Früher, da waren Wundergeschichten dazu da, den Glauben an Gott zu stärken.
Sie waren so etwas wie Belege für seine Macht:
„Sieh her, was mein Gott kann.
Dem kannst Du Dich doch nicht verschließen.“
Das wollten die Wundergeschichten sagen.
Heute hat man das Gefühl, die Wundergeschichten stehen dem Glauben eher im Weg.
Menschen, die an Wunder glauben, gelten schnell als abergläubisch, im besten Fall als naiv.
Wie viele Menschen sagen, dass sie die Ethik des Christentums schätzen,
dass sie aber mit dem Glauben an Wunder nichts anfangen können.
Viele von uns haben es verlernt, an Wunder zu glauben.
Vielleicht auch deshalb, weil wir uns vor Enttäuschungen schützen wollen.
Denn es ist ja nicht so, als ob uns die Wunder überall in die Augen springen würden.
Im Gegenteil:
Wie viele Menschen warten auf Heilung - und sie kommt nicht.
Wie viele Menschen sitzen am Bett ihrer kranken Angehörigen, hoffen, bangen, beten.
Und es geschieht - nichts. Kein Wunder. Nirgendwo.
Wie viele Menschen sehnen sich aus ihrer Einsamkeit heraus.
Hoffen auf die Begegnung, die sie heil macht, die sie den Blick heben lässt.
Sich wieder als Menschen fühlen lässt.
Und es geschieht: Nichts.
Wie viele Menschen beten, dass Frieden kommt - und der Krieg geht weiter, die Grausamkeiten wollen einfach nicht aufhören.
Das alles gibt es ja. Und es wäre in der Tat naiv, wenn wir das Leid und die Not mitten unter uns leugnen wollten.
So viel Leid, so viel Not auf dieser Welt - und trotzdem will ich mir nicht einreden lassen, dass die Welt immer so sein muss, wie sie jetzt ist.
Ich glaube, das ist es, was den christlichen Glauben ausmacht. Nicht so sehr der Glaube an Wunder als übernatürliche Ereignisse. Sondern die Hoffnung. Die manchmal unfassbare Hoffnung, dass sich etwas ändert - zum Besseren ändert in dieser Welt.
Ich will mir nicht einreden lassen, dass die Welt immer so sein muss, wie sie jetzt ist.
Ich will mir nicht einreden lassen, dass das Übel, die Not, die Krankheit - dass die nicht überwunden werden können.
Ich will mich nicht auf die Seite derjenigen schlagen, die vor dem Elend den Blick senken.
Ich will nicht in Hoffnungslosigkeit versinken.
Ich will mich anstecken lassen von Petrus und Johannes, von dem unbändigen, dem unverschämten Glauben, den die beiden ausstrahlen.
Mit dem sie den Gelähmten anstecken.
Ich will an die Macht Gottes glauben, die auch hoffnungslose Situationen aufbrechen kann.
Die etwas in Bewegung bringt in dieser Welt.
Die Macht, die die Gelähmten tanzen lässt.
Daran will ich glauben. Auch wenn es schwer fällt.
Manchmal zu schwer.
Und manchmal ist es auch fast unmöglich, mit seinem Glauben gegen den Strom zu schwimmen.
Gegen den Strom eines Schicksals, der vielen von uns so viel Leid und Elend entgegenspült.
Es gibt Situationen, da kommt so viel zusammen, dass es für einen einzelnen Glauben zu viel wird.
Dann brauchen wir uns gegenseitig.
So wie der Gelähmte die beiden Jünger, Petrus und Johannes, gebraucht hat.
Vielleicht ist das ja eine unserer wichtigsten Aufgaben, die wir als Christen haben:
Für andere mitglauben. Sie nicht loslassen, wenn sie an ihrem eigenen Glauben verzweifeln.
Nicht belehren, nichts von oben herab.
Aber so glauben, dass die im Glauben Gelähmten ihren eigenen Glauben wiedererkennen.
Dass sie sich gestärkt, ermutigt, getröstet fühlen.
Ich glaube, wir sind immer beides:
Wir sind der Gelähmte, der die Hoffnung verloren hat, und der auf Hilfe angewiesen ist.
Auf die Hilfe Jesu Christi, der unser Leben heil macht - und auf die Hilfe der Menschen um uns herum, die uns Christus spüren lassen.
Und wir sind auch diejenigen, die Christus weitertragen, die die Hoffnung auf ihn nicht aufgeben. Die für andere mitglauben, ihre Hand halten, den Arm um sie legen, für sie beten.
Ich glaube, das ist es, was unserem Predigttext vorschwebt:
Menschen, die ihren Schmerz und ihr Leid mal besser und mal schlechter ertragen.
Die sich selbst und die sich gegenseitig nicht aufgeben.
Die aufeinander Acht geben und darauf schauen, was dem Heil und dem Wohl für mich selbst und für den anderen dient.
Die auf Unverhofftes hoffen und sich diese Hoffnung auch in der Verzweiflung nicht nehmen lassen.
Menschen, deren Glauben so weit ist, dass nichts, was passiert, aus diesem Glauben herausfällt.
Diesen Glauben möchte ich haben. Und diesen Glauben wünsche ich uns allen.
Amen.