Eigentlich ist doch alles gesagt | nikolaushueck blog

Eigentlich ist doch alles gesagt

Predigt am Altjahresabend 2022

Eintrag vom

Eigentlich ist über dieses 2022 alles gesagt.
Alles, was 2022 geschehen ist.
Jedenfalls alles, was unsere Medien für wichtig, 
für berührend oder für unterhaltsam gehalten haben.
Alles das ist wieder und wieder erzählt worden in den letzten Tagen.
Keine Zeitung, kein Radio, kein Fernsehen ohne Jahresrückblick.

Wir haben es alles noch einmal gelesen, gehört und gesehen.
Schön übersichtlich auf ein, zwei Doppelseiten.
Gerne auch als Quizshow.
Alles, was die Archive so hergeben:

Der Tod der Queen.
Und der Streit, ob man noch Masken tragen soll.
Die Energiepreisbremse
und die verkorkste Fußball-Weltmeisterschaft in Katar.
Inflation in Europa
und Menschen, die sich aus Protest gegen die Klimapolitik auf die Straße kleben.
Und natürlich der Überfall Russlands auf die Ukraine.

Ein ganzes Jahr, handlich verpackt in 90 Minuten,
so dass es genau zwischen Tagesschau und den Spielfilm passt.
Eigentlich ist alles gesagt, sogar mehrfach.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht: 
Ich bin dieser Jahresrückblicke ein wenig überdrüssig.
Sie sind für mich mehr eine Art bebildertes Gedächtnistraining 
als dass sie mir irgendeine Orientierung geben.

Ja, viele der Bilder, die ich da sehe, berühren mich noch heute.
Der Mut der Iranischen Frauen, die ihr Kopftuch ablegen und dafür ihr Leben riskieren.
Oder die Gesichter und Geschichten der Menschen in der Ukraine.
Die Freudentränen, als sie nach Monaten grausamer russischer Besatzung endlich, endlich befreit wurden.
Das und manches andere hat mich berührt - und berührt mich auch jetzt noch.

Aber vielleicht gerade deswegen:
In den oft fürchterlich kurzatmigen Jahresrückblicken 
geht etwas verloren, was man den Blick für’s Wesentliche nennen könnte.
Den Blick dafür, was mich und mein Leben trägt.

Wir spüren, dass das Alte uns geprägt hat, 
dass es uns noch nicht loslässt. 
Dass es nicht reicht, sich ein paar Momente noch einmal im Fernsehen anzuschauen, um mit dem Jahr 2022 getrost abschließen zu können.

Wir spüren, dass da noch etwas fehlt.
Der letzte Abend im Jahr,
eigentlich ein Abend wie jeder andere Abend auch.
Herausgehoben nur durch die Zufälligkeit unseres Kalendersystems.

Aber eine gute Gelegenheit, zurückzuschauen, einzuordnen,
in aller Stille, für mich ganz persönlich, 
und im Bewusstsein, dass ich damit nicht allein bin.
Dass andere mit mir hier sind.
Und dass wir gemeinsam vor Gott zurückschauen auf dieses Jahr.

Das ist es, was diesen Gottesdienst für mich zu einem meiner
liebsten Zeiten im Kirchenjahr macht.
Dieser Gottesdienst kommt meinem ganz persönlichen Glauben am nächsten.

Denn nichts anderes ist Glaube: 
Mein Leben im Licht Gottes sehen.
Das, was mir passiert, was ich erlebe, was ich selbst anstoße,
das alles im Licht dessen sehen, von dem ich glaube, dass er mich begleitet. 

Überall hin:
Auf die höchsten Höhen und beim größten Glück
begleitet er mich genauso 
wie in die tiefsten Niederungen, in den dunkelsten Stunden.
Für mich kommt es darauf an, dass ich alles, was ich erlebe,
was ich verschulde, was mir passiert - 
dass ich das alles Gott sagen kann, ihm anvertrauen kann.

Ich bin mir sicher, dass er nicht mit allem einverstanden ist, was ich tue.
Und er hat wirklich genügend Gründe, mit mir unzufrieden zu sein.

Ich darf aber genauso sicher sein, dass er alles: 
mich, mein Leben, 
uns alle, unsere so ganz verschiedenen Leben,
dass er uns alle mit seiner grenzenlosen Liebe ansieht.

Mein Leben im Licht seiner Liebe sehen,
das ist tröstlich, das gibt mir Kraft, 
und das ist eigentlich der Kern meines Glaubens.

Denn es ist doch keineswegs egal, in welchem Licht, 
mit welcher Perspektive ich auf mein Leben sehe.
Je nach Blickwinkel ändert sich mein Leben, 
ändere ich mich, ändere ich meine Einstellung zu den anderen, die mir begegnen.

Ob ich so stolz auf mich selbst bin, 
dass ich die anderen kaum noch wahrnehme,
oder so unsicher, dass ich niemandem in’s Gesicht schauen kann.
Ob ich mich so schuldig fühle, dass ich mich kaum selbst ertrage,
oder so selbstverliebt bin, dass ich alles, was falsch läuft, immer den anderen anhänge.

Ob ich mich von Unglücksfällen, von Tod und Krankheit in die Tiefe reißen lasse,
oder ob mich nichts mehr berühren kann, ich allen nur noch meine zynische Seite zeige.

Ich glaube, dass mein Blick auf mein Leben
dass dieser Blick mein Leben ganz wesentlich bestimmt.

Und ich glaube, dass die, die ihr Leben im Lichte Gottes zu sehen versuchen, 
dass die einen klaren und guten Blick auf die Wirklichkeit bekommen.
Dass sie sich nicht in Extreme flüchten müssen.
Dass sie nichts beschönigen, 
sich aber auch selbst nicht klein machen müssen.

Ich glaube, dass dieser Blick auf das Leben im Licht Gottes 
Lebensmut und Lebenskraft und viel Zuversicht schenkt.
Und dass die, die sich im Licht Gottes sehen können,
dass die auch für andere eine Quelle von Mut und Kraft und Zuversicht sein können.

Das Leben im Licht Gottes sehen.
Der Apostel Paulus hat dafür eindrucksvolle Worte gefunden.
Im 8. Kapitel des Briefes an die Römer schreibt er:

Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein?
Wer will uns scheiden von der Liebe Christi?
Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger 
oder Blöße oder Gefahr oder Schwert?
Ich bin gewiss,
dass weder Tod noch Leben,
weder Engel noch Mächte noch Gewalten, 
weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, 
weder Hohes noch Tiefes
noch eine andere Kreatur
uns scheiden kann von der Liebe Gottes, 
die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.

Paulus weiß sehr genau, wovon er spricht.
Er hat das alles selbst erlebt: Trübsal und Angst,
er hat Hunger gelitten und wurde verfolgt.

Er ist kein schneller Tröster, der mal eben so 
ein paar fromme Worte verteilt.

Die Liebe Gottes, von der uns nichts scheiden kann,
sie war seine Kraftquelle, sein Lebensmut, seine letzte Hoffnung.

Ich lese aus diesen Worten eine tiefe Dankbarkeit und eine tiefe Zuversicht. 
Beides tut uns gut an diesem Abend zwischen Altem und Neuem.

Wer von uns das Jahr 2022 vor Gott bringt, 
wird genug Gelegenheiten haben 
zu trauern, wütend zu sein, verunsichert zu sein und sich zu ängstigen.

Aber wird sicher auch genug Gelegenheit haben zu danken.
Zu danken für viele Dinge, die uns selbstverständlich erscheinen, 
die aber alles andere als selbstverständlich sind.

Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes, 
die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.

Für mich ist Paulus ein Vorbild darin,
wie ich mit dem Glauben an Gott durch mein Leben gehen will.
Er weiß sehr gut, was ein Mensch alles durchleben und durchleiden kann,
welche Nöte und Krisen es gibt.
Und wie schwächlich und ängstlich das Leben einen Menschen machen kann.

Aber er hält an Gott fest.
Er hält an dem Blick fest, sein Leben im liebevollen Licht Gottes zu sehen, und gewinnt dadurch unverschämt viel Lebensmut.
Nein, Gott hat niemandem ein einfaches Leben versprochen.
Gott hat niemandem versprochen, dass es einfach wird, wenn man nur an ihn glaubt.
Gott hat nicht gesagt, dass die Tiefschläge und die Katastrophen nicht auch die erwischen, die auf ihn vertrauen.
Wir haben das 2022 erlebt.
Und was 2023 kommt, das wissen wir nicht.

Aber was auch passiert: Gott hat versprochen, 
uns niemals von der Seite zu weichen.
Er wird seine Liebe nicht von uns nehmen.

Und in dem Licht dieser Liebe Gottes sehen wir klarer. 
Auf uns und auf die anderen.

Im Licht der Liebe Gottes sehen wir uns klarer 
und das, was wir im vergehenden Jahr erlebt haben. 
Wir sehen, wo es uns noch schmerzt.
Wir sehen, wo Narben geblieben sind. 
Wir sehen, wo wir anderen etwas schuldig geblieben sind.

Nichts davon müssen wir im Rückblick beschönigen.
Und nichts dramatisieren.
Wir dürfen unser Jahr 2022 getrost zurücklegen in die Hände Gottes, 
der in seiner Liebe uns diese Last abnimmt.

Im Licht der Liebe Gottes sehen wir die anderen Menschen klarer 
und das, was wir mit ihnen im vergangenen Jahr erlebt haben.
Wir sehen, wo sie verletzt wurden und sehen die Wunden, die wir selbst ihnen zugefügt haben. 
Wir sehen, wo wir helfen können und wo wir loslassen müssen.

Wir müssen unsere Schuld im Rückblick nicht kleinreden
und haben auch keinen Grund, uns für unverzichtbar zu halten.

Wir dürfen getrost unsere Liebe, unseren Streit, unsere Ungeduld
auch die dürfen wir jetzt in Gottes Hand zurücklegen.
Er nimmt uns auch diese Last ab.

Und so, befreit von der Last des Alten,
können wir mit Zuversicht und Gottvertrauen das Neue angehen.
Auch im neuen Jahr wird es nichts geben, was uns abschneidet von der Liebe Gottes. 

Amen.