Kein Jubel ohne Schmerz | nikolaushueck blog

Kein Jubel ohne Schmerz

Meine Predigt zu Joh 16,16-22 an Jubilate, 30. April 2023

Eintrag vom

Jesus sprach zu seinen Jüngern:
Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht mehr sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen.
Da sprachen einige seiner Jünger untereinander:
Was bedeutet das, was er zu uns sagt:
Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht sehen;
und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen; und: Ich gehe zum Vater?
Da sprachen sie: Was bedeutet das, was er sagt: Noch eine kleine Weile? Wir wissen nicht, was er redet.
Da merkte Jesus, dass sie ihn fragen wollten, und sprach zu ihnen:
Danach fragt ihr euch untereinander, dass ich gesagt habe: Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht sehen;
und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen? Wahrlich, wahrlich, ich sage euch:
Ihr werdet weinen und klagen, aber die Welt wird sich freuen;
ihr werdet traurig sein, doch eure Traurigkeit soll zur Freude werden.
Eine Frau, wenn sie gebiert, so hat sie Schmerzen, denn ihre Stunde ist gekommen.
Wenn sie aber das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst um der Freude willen, dass ein Mensch zur Welt gekommen ist.
Auch ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen.
Und an jenem Tage werdet ihr mich nichts fragen.

Ein merkwürdiger Text.
Ein Text mit vielen Wiederholungen.
Und trotzdem versteht man ihn nur schwer.

Jesus und seine Jünger:
Irgendwie reden sie alle durcheinander:
Wenn dieser Text ein Comic wäre,
dann wären über den Köpfen der Jünger lauter Fragezeichen.
Denn Jesus spricht in Rätseln.

Ein merkwürdiger Text auch aus einem anderen Grund.
Heute, so kurz nach Ostern,
heute lesen wir einen Text,
in dem es um Abschied und Trauer geht.

Am Sonntag Jubilate hören wir nicht so sehr von Jubel,
sondern von Schmerzen.
Wir werden noch einmal zurückgeführt in die Zeit vor Karfreitag:
Jesus und die Jünger sitzen beisammen.
Er verabschiedet sich von ihnen.

Das spüren die Jünger,
aber sie wissen noch nicht wirklich, was ihm bevorsteht.
Sie merken nur, dass irgendetwas anders ist als davor.

Es ist eine traurige, vielleicht eine wehmütige Stimmung.
"Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht mehr sehen;"
Was soll das bedeuten, fragen sie sich.
Geht er weg? Lässt er sie im Stich?
Und dann, eine kleine Weile später, dann kommt er wieder?
Was meint er damit?

Sie trauen sich nicht, ihn zu fragen.
Sie tuscheln untereinander.
Aber Jesus sieht ihre ratlosen Gesichter.
Und er versucht noch einmal, ihnen zu erklären:
"Ihr werdet weinen und klagen", sagt er.
"ihr werdet traurig sein, doch eure Traurigkeit soll zur Freude werden."

Sie spüren, dass Jesus sie trösten will.
Aber so richtig kommt der Trost nicht an.
Es ist zu rätselhaft, was Jesus da sagt.

Wir machen einen Sprung von, sagen wir, 70 Jahren.
Es ist um das Jahr 100.
Der Evangelist Johannes sitzt in seiner Schreibstube und schreibt diese Zeilen auf.
Das von der kleinen Weile, in der Jesus weg sein wird.
Und das von der kleinen Weile, nach der er wiederkommt.
Und wie Jesus seine Jünger trösten will:
"Ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen".

Johannes weiß natürlich, wie es weitergegangen ist:
Die erste kleine Weile bis zum Karfreitag, bis zum Tod am Kreuz.
Und dann die zweite kleine Weile bis zum Ostermorgen.
Als Jesus seine Jünger wiedergesehen hat.

Johannes weiß natürlich, was Jesus gemeint hat.
Und die, für die er sein Evangelium aufgeschrieben hat,
die verstehen es auch.
Denn auch die kennen ja die Geschichte von Karfreitag und Ostern.

Aber warum erzählt Johannes so überaus ausführlich und genau von dieser Szene? Was will er denn seinen Lesern damit sagen?

Ich glaube, ihm geht es um eine andere kleine Weile.
Eine Weile, die eigentlich nicht mehr klein ist.
Johannes geht es um die Zeit bis zum Ende der Zeiten.
Die Zeit, bis endlich Christus wieder zurück kommt.
Diese Zeit dehnt sich und streckt sich und wird immer länger.
Von dieser Hoffnung haben die ersten Christen ja gelebt.
Dass es nicht lange dauern wird, bis diese Welt der Schmerzen und der Trauer und des Leids zuende geht.
Und bis Christus wiederkommt und die Welt verwandelt.
Dann aber für immer.

Die Christen zur Zeit des Johannes haben sich gefragt:
Wann ist es endlich so weit?
Wie lange müssen wir es denn noch aushalten auf dieser Welt?
Mit all ihren Schmerzen und mit all der Not.
Und mit all dem Hass, den wir von allen Seiten erfahren.
Wie lange noch?

Und Johannes will sagen:
Damals hat Jesus seinen Jüngern versprochen,
dass er sie nach einer kleinen Weile wieder sehen wird.
Und uns hat er auch versprochen, dass er am Ende der Zeiten zurück kommt.

Damals hat er sein Versprechen gehalten.
Und jetzt wird er es auch halten.

So wie er damals gegen alle Erwartung auferstanden ist.
So wird er jetzt gegen alle Erwartungen wiederkommen.
Und er wird unsere Trauer und unsere Angst und unseren Schmerz in pure Freude verwandeln.
Freude, die uns nichts und niemand mehr nehmen kann.
Ich glaube, das ist der Grund, warum Johannes diese Worte so genau aufgeschrieben hat:
Trost für die Menschen, die so sehnlich auf Christus warten,
während sich die Zeit zieht und zieht und scheinbar kein Ende absehbar ist.

Und jetzt machen wir noch einen letzten Sprung.
Sagen wir so etwa 1900 Jahre - also ins Heute, zu uns.
Warum sollen wir heute diesen Text lesen?

Ich sage Ihnen, warum ich ihn lese.
Und vielleicht geht es ja dem einen oder der anderen von Ihnen ähnlich.

Denn mir geht es genauso wie den Jüngern.
Und wie den Menschen zur Zeit des Johannes:
Ich habe deutlich mehr Fragen als Antworten.

Ich frage mich:
Was hat sich denn eigentlich durch Ostern wirklich verändert?
Ist die Welt wirklich eine andere geworden?

Ich frage mich:
Wie soll ich an ein Ende aller Schmerzen glauben,
wie soll ich daran glauben, dass Christus wiederkommt
und dass Gott eine neue Welt schafft,
wenn doch gleichzeitig diese alte Welt immer weiterläuft, als wäre nichts gewesen?

Wie soll ich an Ostern glauben,
während die Mütter in der Ukraine ihre gefallenen Söhne betrauern?
Wie soll ich an Ostern glauben,
während der junge Vater an Krebs stirbt.
Wie soll ich an Ostern glauben,
wenn es manchmal so ungerecht zugeht, dass ich schreien möchte?

Darf man solche Fragen stellen?
Die Jünger haben sich kaum getraut, ihre Fragen zu stellen.
Aber Jesus hat sie trotzdem gehört.
Und ihnen trotzdem geantwortet.
Und deshalb glaube ich: Ich darf mir solche Fragen auch stellen.
Und ich glaube, Christus hört mir zu.
Und vielleicht höre ich selbst gut genug,
um seine Antwort zu verstehen.

Ihr werdet weinen und klagen, höre ich seine Antwort
ihr werdet traurig sein, doch eure Traurigkeit soll zur Freude werden, sagt Jesus.
Er sagt nicht:
Wartet nur ab: die Trauer wird irgendwann vergehen und ihr werdet euch wieder freuen können.
Das wäre kein Trost, das wäre Vertröstung.

Jesus sagt: Es ist die Traurigkeit selbst, die zur Freude werden wird.

Das ist schwer zu verstehen.
Und es ist vielleicht noch schwerer, so zu leben.
Aber so höre ich den Predigttext:
An der Traurigkeit, an den Schmerzen führt kein Weg vorbei.
So war es ja auch bei ihm selbst:
Kein Ostern ohne Karfreitag.
Kein Jubel ohne Schmerzen.

Ohne die Traurigkeit geht es nicht.
Ohne die Schmerzen, die eine Mutter hat, kommt kein Kind zur Welt.
Ohne Schmerzen gibt es nichts Neues.
Ohne Schmerzen bleiben wir immer die Alten stecken.
Ohne Schmerzen bleibt die Welt stehen.
Ohne Schmerzen werden wir nicht neu.
Nur wer in Christus ist, nur wer mit ihm mitleidet,
wird eine neue Kreatur.
Eine neue Kreatur werden - für mich heißt das:
Ein Mensch werden, der traurig sein kann, aber die Freude nicht verlernt.
Ein Mensch, der Schmerzen empfinden kann, aber darüber nicht verzweifelt.
Ein Mensch, der immer noch und immer wieder die Freude spürt, die in ihm ist.
Eine Freude, die nichts und niemand erschüttern kann.

Vielleicht kennen Sie solche Menschen.
Die sich ihre Dankbarkeit bewahren, obwohl alle anderen in diesem Leben nicht viel zum Danken finden.
Menschen, bei denen man merkt, dass die Freude das Leben zusammen hält.
Auch wenn Trauer und Schmerz und Tod zu jedem Leben dazugehören.
So ein Mensch sein - vielleicht ist das die neue Kreatur, schon jetzt.

Vielleicht geht es ja gar nicht so sehr um's Warten.
Vielleicht geht es ja eher darum, schon jetzt so zu leben.
Dass sich Trauer in Freude verwandeln kann.

Jesus sagt: Das was Ihr jetzt fühlt,
eure Trauer jetzt, in diesem Augenblick.
Euer Schmerz, der euch niederbeugt,
Eure Angst, die euch klein machen will,
das alles wird in Freude verwandelt.
Und nichts ist stärker als diese Freude.

Nein, mit dem Verstand lässt sich das kaum begreifen.
Aber mit dem Herzen fühlen. Und dann eben doch danach leben.
Eure Freude soll niemand von euch nehmen.
Und an jenem Tage werdet ihr mich nichts fragen.
Und dann sind wir eine neue Kreatur.
Wenn das kein Grund zum Jubeln ist!
Amen.